Wenn man über Ernährung spricht, kommt man aktuell (2024) an einem Thema nicht vorbei: Protein.
High Protein-Produkte sind im Trend, Protein wird als Wunderwaffe für viele Probleme gehandelt und Protein-Pulver stehen längst in den Supermark-Regalen. Gleichzeitig warnen Verbraucherzentralen, Fachgesellschaften und die großen Medien regelmäßig vor zu viel Protein und weisen darauf hin, dass wir alle die empfohlenen Verzehrmengen erreichen, ja in den meisten Fällen sogar überschreiten würden.
Diese empfohlenen Verzehrmengen beziehen sich auf die sogenannte Referenzmenge, die von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) vorgegeben wird. Die DGE ist dabei kein offizielles staatliches Organ, sondern ein eingetragener Verein, der jedoch zu großen Teilen durch Fördermittel des Bundes und zudem durch Mitgliedsbeiträge und Spenden finanziert wird.
0.8 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht ist die "auf Basis neuer wissenschaftlicher Daten" 2017 aktualisierte Vorgabe der DGE für die Zufuhr von Protein
(vgl. hier sowie die Studiengrundlage von Richter et al. 2019) für Erwachsene.
Dieser Wert wird auch grundsätzlich in nahezu allen medialen Veröffentlichungen als Referenz herangezogen, wenn es um die empfohlenen Zufuhrmengen von Protein geht.
Mit 0.8g pro Kilogramm landet man bei 48g Protein für eine 60kg schwere Person, bei 64g für eine 80kg schwere Person.
Das sind Werte, die mit einer normalen Ernährung durchaus einfach zu erreichen sind. 100g Brot (ca. 10g), 200g Erbsen (ca.10g), 50g Haferflocken (7g), 200g Magerquark (ca. 28g) und 50-75g Scheibenkäse (12-18g) reichen, um auf diesen Proteingehalt zu kommen.
Aber wie kommt die Zahl eigentlich zustande? Welche Methode liegt den 0.8g zugrunde?

Protein: Makronährstoff, an dem sich die Geister scheiden
Die Stickstoffbilanz
Die DGE erklärt: "Für Erwachsene ab 19 bis unter 65 Jahren wird der Proteinbedarf mittels Daten aus Stickstoffbilanzstudien bestimmt."
Bei der Stickstoffbilanz wird die Stickstoffaufnahme ins Verhältnis zur -abgabe im Organismus gesetzt, was, um aussagekräftig zu sein, sehr akkurat und über einen längeren Zeitraum getan werden muss, bei peinlichst genauer Einhaltung eines Speiseplans.
Proteine, die über die Nahrung aufgenommen werden, bestehen aus Aminosäuren, die wiederum Stickstoff enthalten. Mittels einfacher Berechnung kann nun kalkuliert werden, wieviel Stickstoff über die aufgenommene Proteinmenge konsumiert wird, durch Analyse von Urin, Kot und Schweiß kann analog dazu bestimmt werden, wieviel Stickstoff wieder ausgeschieden wird.
Das Verhältnis der beiden Werte bezeichnet man als Stickstoffbilanz. Ist diese Bilanz positiv, wird mehr Stickstoff aufgenommen als ausgeschieden wird – der Körper befindet sich demnach in einem Aufbauzustand oder auch anabolen Zustand: es werden mehr Aminosäuren verwertet und eingelagert, als abgebaut werden.
Im Gegensatz dazu steht die negative Stickstoffbilanz: werden mehr Proteine abgebaut als aufgebaut verliert der Körper mehr Stickstoff, als er aufnimmt. Wir befinden uns in einem katabolen Stoffwechselzustand – beispielsweise während einer Diät.
Entspricht die aufgenommene Stickstoffmenge hingegen der abgegebenen, spricht man von einer neutralen Stickstoffbilanz – und genau diese neutrale Stickstoffbilanz war in einigen streng kontrollierten Studien bei 0.8g Protein pro Kilogramm Körpergewicht im Mittel für die untersuchte Personengruppe erreicht.
Konkret bedeutet das, dass diese Vorgaben auf Daten beruhen, die in einem Laborumfeld anhand einer kleinen Stichprobe gewonnen wurden - und damit eine sehr geringe Aussagekraft haben.
Stickstoffbilanzstudien sind methodisch fragwürdig und kaum übertragbar auf die Allgemeinbevölkerung, weil wenige Individuen über einen langen Zeitraum in einem Labor festsitzen, kaum Möglichkeiten haben, ihrem Alltag nachzugehen und zudem einen rigorosen Speiseplan verfolgen, der nichts mit ihrer Alltagsernährung zu tun hat - denn tatsächlich ist die Stickstoffbilanz nicht nur abhängig von der Proteindosis, sondern von den zugeführten Lebensmitteln überhaupt (Bartholomae et al 2023).
Zudem hängt, wie aus der Erklärung schon klargeworden sein sollte, die Stickstoffbilanz sehr eng mit den jeweiligen Lebensumständen zusammen. Krankheit, Stress, körperliche Aktivität, Alter und spezifische Lebensumstände (man denke an die Schwangerschaft) haben enorme Auswirkungen darauf, wieviel Aminosäuren benötigt werden. Gerade das Alter ist hier ein entscheidender Faktor (Phillips 2017): ältere Menschen verwerten Aminosäuren etwas weniger gut, wodurch sich die Stickstoffbilanz verändert.
All das wird in der Grundlagenempfehlung weitgehend ignoriert.
Kinder und Jugendliche spielen bei den Studien keine Rolle (vgl. zur Kritik Rand et al. 2003 & Elango et al. 2011), wenn es um Proteinbedarf für ältere Erwachsene (hier nennt die DGE 1g / Kilogramm) geht, nutzt die DGE direkt "Schätzwerte", weil keine empfohlene Zufuhr abgeleitet werden könne.
Diese Daten als Basis zu nehmen für die Referenzzufuhr des elementarsten Makronährstoffs, der für das Funktionieren unseren gesamten Organismus zuständig ist, ist nicht fragwürdig, es ist unseriös.
In den letzten Jahrzehnten wurde der Referenzwert von zahlreichen WissenschaftlerInnen angezweifelt und nach oben korrigiert, weil bessere Methoden als die Stickstoffbilanz existieren, die zwar kosten- und aufwandsintensiv, aber dafür auch relativ zuverlässig sind.
Inzwischen muss es als wissenschaftlicher Konsens gelten, dass die Referenzmenge von 0.8g pro Kilogramm Körpergewicht überholt ist und den Anforderungen einer gesunden Ernährung für alle Altersgruppen nicht gerecht wird (Phillips et al. 2016; Jäger et al. 2017; Philips et al. 2017).
Zudem wurde die Befürchtung, eine zu hohe Proteinzufuhr schade den Nieren, für (gesunde) Menschen ad acta gelegt (Siener 2021).
Inzwischen ist klar bewiesen worden, dass Mengen von 1.2g/KG und mehr erst die positiven Effekte auf Calcium und damit für die Knochen haben, die Protein zugeschrieben werden.
Die aktuellen Erkenntnisse und die wissenschaftliche Datengrundlage
Seitdem die Referenzmenge erstmals wissenschaftlich erarbeitet wurde (in den 1980er Jahren), hat sich die Forschung zur Proteinzufuhr erheblich weiterentwickelt.
So weiß man inzwischen, dass die empfohlene Zufuhr von 0.8g nicht ausreicht, um Muskelgewebe in einem Kaloriendefizit zu erhalten. In einer qualitativ hochwertigen Studie von Cao et al. wurde beispielsweise eine Zufuhr von 0.8g mit 1.6g und 2.4g Protein unter Kalorienrestriktion verglichen und festgestellt, dass die Probanden, die die Referenzmenge (0.8g) aßen, nicht nur mehr Muskulatur verloren, sondern zudem weniger Fettmasse verloren als die beiden Kontrollgruppen (deren Ergebnisse ähnlich waren) (Cao et al. 2014).
Longland et al. untersuchten die Kalorienzufuhr bei Übergewichtigen und stellten fest, dass eine höhere (2.4g) Proteinzufuhr gegenüber einer niedrigeren (1.2g) dazu führte, dass – wie zu erwarten – mehr Muskulatur aufgebaut wurde, während die Gruppe mit 1.2g ihre Muskulatur – obwohl trainiert wurde – nur erhalten konnte. Interessanterweise verlor die Gruppe, die mehr Protein aß, aber mehr Körperfett (Longland 2016).
Für ältere Menschen birgt die Referenzmenge sogar ein gewisses Risiko einer verstärkten Sarkopenie, d.h. einem übermäßigen Muskelverlust, der zur fortschreitenden Immobilität im Alter beiträgt (Morley et al. 2010; Aragon et al. 2023) und der keinesfalls naturgegeben ist, sondern dem entgegengewirkt werden kann (Aragon et al. 2023).
In großen Position Stands (also Papieren, bei denen sich ExpertInnen auf ihrem Gebiet auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner einigen) formulierten bereits vor 10 Jahren gleich zwei Forschungsgruppen unabhängig voneinander Mindestmengen von 1-1.2g/kg für gesunde ältere Menschen und 1.2-1.5g/kg für ältere Menschen mit Mangelernährung oder chronischen Krankheiten, was mittlerweile sogar bis auf 2g erhöht wurde (Deutz et al. 2014; Bauer et al. 2013; Kiesswetter 2020, Phillips et al. 2022).
Wenn ältere Menschen (65+) Muskeln nicht nur nicht verlieren, sondern ggfs. sogar aufbauen möchten – was im Alter wie eine Lebensversicherung wirkt – ist, wie eine große Meta-Analyse über 74 Einzelstudien kürzlich herausgefunden hat, eine Proteinzufuhr von 1.2-1.6g/kg notwendig (Nunes 2022).
Sobald man nämlich die Proteinzufuhr im Kontext des Sports betrachtet, wird die tradierte Referenzmenge vollkommen unglaubwürdig. Schon 2012 haben Cermak et al. (Cermak 2012) in einer großen Meta-Analyse (22 Studien) festgestellt, dass trotz einer Zufuhr von 1.2g Protein pro Kilogramm eine zusätzliche Gabe von 50g Protein am Tag (was dann einer Gesamtzufuhr von 1.6-1.8g entsprechen würde) Muskel- und Kraftaufbau signifikant erhöhte.
2018 veröffentlichten Morton et al. (Morton et al. 2018) eine Meta-Analyse über 49 Einzelstudien, in der sie 1.6g Protein als sweet spot für den Muskelaufbau herausarbeiteten, jedoch mit dem Hinweis darauf, dass erfahrene Trainierende sich eher an 2.2g orientieren sollten, um optimale Effekte zu erzielen.
Nunes et al. (2022) kamen in ihrer Meta-Analyse zu dem Schluss, dass Trainierende unter 65 für optimalen Muskel- und Kraftaufbau mehr als 1.6g Protein zuführen sollten.
In einer kürzlichen erschienenen randomisierten Kontrollstudie schließlich verglichen ForscherInnen die Zufuhr von 1.6g Protein mit der von 3.2g / Kilogramm hinsichtlich des Effekts auf Muskelaufbau. Nur im Bezug auf die maximale Kraftentwicklung hatte die High-Protein-Gruppe hier Vorteile, ansonsten gab es hinsichtlich Muskel- und Kraftentwicklung keine signifikanten Unterschiede (Bagheri et al. 2023) – was allerdings damit zu erklären ist, dass die Trainierenden nur moderat fortgeschritten waren und das Trainingsalter, wie schon Morton et al. herausgestellt hatten, den Bedarf mitbestimmt.
Damit liegt der grundsätzliche Richtwert für die Proteinzufuhr bei 1.6g pro Kilogramm Körpergewicht – sobald jedoch die Belastung durch Training höher ist oder die Gesamtkalorienzufuhr niedriger (also in einem Defizit gegessen wird), müssen wir diesen Wert signifikant nach oben korrigieren.
Hector / Phillips (2018) erweitern die Range nach oben von 1.6-2.4g für einen solchen Fall, Helms et al. gehen mit 2.1-3.2g noch höher (Helms 2014).
Im Bereich des ambitionierten Bodybuildings müssen wir mit Zahlen von 2.7-3.3g/kg rechnen (Chappell 2018).
Dementsprechend empfehlen die aktuellen Position Stands von einschlägigen ExpertInnen durchweg zumindest 2.0g pro Kilogramm für SportlerInnen (Jäger et al. 2017; Thomas et al. 2016).
Schließlich lässt sich die Proteinzufuhr noch vor dem Hintergrund von Körperfettreduktion / Body Composition betrachten. Entgegen der landläufigen Meinung, dass mehr Kalorien immer mehr Körperfett bedeuten würde, liegen im Fall von Protein die Dinge etwas anders.
Denn konkret ist es so, dass der Körperfettverlust bei gleichzeitigem Aufbau von Muskulatur am zuverlässigsten funktioniert, wenn die Proteinzufuhr sehr hoch ist.
In einer experimentellen Studie aus 2015 konnte festgestellt werden, dass Trainierende, die 3.4g Protein aßen gegenüber denen, die nur 2.3g aßen, mehr Körperfett verlieren konnten – auch wenn sie faktisch mehr Kalorien zu sich nahmen (Antonio et al. 2015). Dieses Phänomen ist in vielen Beobachtungsstudien zu sehen, der Sweet Spot um davon zu profitieren liegt bei 2.6-3.5g/Kilogramm (Antonio 2016).
Bedenken hinsichtlich einer hohen Proteinzufuhr sind, nach allem was wir aktuell wissen, nicht notwendig (Antonio 2016; Antonio 2016, (1); Antonio 2018).
Zusammenfassung: Die Verabschiedung der 0.8g und die aktualisierten Referenzmengen
Wie die obigen Daten zeigen, sind Zufuhrempfehlungen von weniger als 1.2g Protein generell kein Thema mehr in der aktuellen Literatur. Jüngst (2016 & 2022) haben Phillips et al. als Standardwert für die Allgemeinbevölkerung 1.2-1.6g/KG herausgearbeitet, womit sie noch im moderaten Bereich des Spektrums der Wissenschaft liegen (Phillips et al 2016).
Forschungsarbeiten, die neuere Methoden zur Aminosäurenverstoffwechslung verwenden, kommen zu allgemeinen Empfehlungen von 2g / Kilogramm, auch solche Arbeiten, denen es um Vermeidung von Sarkopenie geht oder die ein Interesse an einer Appetitkontrolle haben, veranschlagen Werte, die eher im Bereich von 2g und darüber liegen (Roberts 2018; Mazzulla et al. 2020).
Im klinischen Setting zeigen erste Übersichtsarbeiten inzwischen ebenfalls, dass gerade für chronisch kranke und immunsupprimierte PatientInnen 2-2.5g Protein notwendig zu sein scheinen (Hoffer 2012).
Fakt ist demnach: Die Referenzwerte der DGE sind veraltet. Sie sind nicht "auf Basis neuer wissenschaftlicher Daten" entwickelt.
Anhand der hier vorgestellten Daten und den Beobachtungen aus der Praxis haben wir in den vergangenen 15 Jahren folgende Referenzwerte für die Proteinzufuhr entwickelt, die sich alle auf gesunde Menschen mit normaler Nierenfunktion beziehen:
Grundsätzliche Empfehlung für Erwachsene sind 1.2-1.6g/Kilogramm, mit einer eindeutigen Tendenz zu 1.6g.
Ältere Menschen Ü65 1.5g-2g/kg
VeganerInnen 2.2g-2.5g/kg
SportlerInnen mind. 2g/kg, jedoch nach oben zu erweitern je nach individueller Bedarfslage.
In einem Kaloriendefizit 2g+, eher bis zu 3g oder mehr
Body Comp / Body Re-Comp (Muskelaufbau & Körperfettverlust) 2.6-3.4g/kg
Krankheit 2-2.5g
Übersicht Verzehrempfehlungen Protein in Gramm pro Kilogramm Körpergewicht (Stand 2024)*
Personengruppe | Proteinmenge |
Erwachsene, durchschnittl. aktiv, gesund | 1.2-1.6g; Tendenz zu 1.6g |
Ältere Menschen, 65+ | 1.5g-2g |
VeganerInnen | 2.2-2.5g |
SportlerInnen | Mind. 2g, nach oben zu erweitern nach Umfang |
Diät / Kaloriendefizit | 2g+, eher 3g oder mehr |
Body Comp & Body Re-Comp (Muskelaufbau & Körperfettverlust) | 2.6-3.4g |
Krankheit, chronische Erkrankungen | 2-2.5g |
All diese Referenzwerte beruhen auf aktueller (Stand 2024) Forschungsliteratur und müssen für den individuellen Fall ggfs. noch einmal angepasst werden. Tatsache ist jedoch, dass wir uns inzwischen von Empfehlungen wie 0.8g weit entfernt haben sollten.
Viel Erfolg mit der Umsetzung der Proteinzufuhr in der Praxis!