Basics der Ernährung 2: Alter Wein in alten Schläuchen – Die Referenzmenge für Protein

0.8g pro Kilogramm Körpergewicht ist die "auf Basis neuer wissenschaftlicher Daten" 2017 aktualisierte Vorgabe der DGE für die Zufuhr von Protein (vgl. https://www.dge.de/wissenschaft/referenzwerte/protein/ sowie die Studiengrundlage von Richter et al. 2019) für Erwachsene. Dieser Wert wird auch grundsätzlich in nahezu allen medialen Veröffentlichungen als Referenz herangezogen, wenn es um die empfohlenen Zufuhrmengen von Protein geht.

Mit 0.8g pro Kilogramm landet man bei 48g Protein für eine 60kg schwere Person, bei 64g für eine 80kg schwere Person. Das sind Werte, die mit einer normalen Ernährung durchaus einfach zu erreichen sind. 100g Brot (ca. 10g), 200g Erbsen (ca.10g), 50g Haferflocken (7g), 200g Magerquark (ca. 28g) und 50-75g Scheibenkäse (12-18g) reichen, um auf diesen Proteingehalt zu kommen.

Aber wie kommt die Zahl eigentlich zustande? Welche Methode liegt den 0.8g zugrunde?

Die DGE erklärt: "Für Erwachsene ab 19 bis unter 65 Jahren wird der Proteinbedarf mittels Daten aus Stickstoffbilanzstudien bestimmt."

Bei der Stickstoffbilanz wird die Stickstoffaufnahme ins Verhältnis zur -abgabe im Organismus gesetzt, was, um aussagekräftig zu sein, sehr akkurat und über einen längeren Zeitraum getan werden muss, bei peinlichst genauer Einhaltung eines Speiseplans.

Konkret bedeutet das, dass diese Vorgaben auf Daten beruhen, die in einem Laborumfeld anhand einer kleinen Stichprobe gewonnen wurden - und damit eine sehr geringe Aussagekraft haben.

Protein: Makronährstoff, an dem sich die Geister scheiden


Datengrundlage und Kritik

Stickstoffbilanzstudien sind methodisch fragwürdig und kaum übertragbar auf die Allgemeinbevölkerung, weil wenige Individuen über einen langen Zeitraum in einem Labor festsitzen, kaum Möglichkeiten haben, ihrem Alltag nachzugehen und zudem einen rigorosen Speiseplan verfolgen, der nichts mit ihrer Alltagsernährung zu tun hat - denn tatsächlich ist die Stickstoffbilanz nicht nur abhängig von der Proteindosis, sondern von den zugeführten Lebensmitteln überhaupt (Bartholomae et al 2023).

Kinder und Jugendliche spielen bei den Studien keine Rolle (vgl. zur Kritik Rand et al. 2003 & Elango et al: Protein requirement of healthy school-age children, 2011), wenn es um Proteinbedarf für ältere Erwachsene (hier nennt die DGE 1g / Kilogramm) geht, nutzt die DGE direkt "Schätzwerte", weil keine empfohlene Zufuhr abgeleitet werden könne. 

Diese Daten als Basis zu nehmen für die Referenzzufuhr des elementarsten Makronährstoffs, der für das Funktionieren unseren gesamten Organismus zuständig ist, ist nicht fragwürdig, es ist unseriös.

In den letzten Jahrzehnten wurde der Referenzwert von zahlreichen WissenschaftlerInnen angezweifelt und nach oben korrigiert, weil bessere Methoden als die Stickstoffbilanz existieren, die zwar kosten- und aufwandsintensiv, aber dafür auch relativ zuverlässig sind.

Zudem wurde die Befürchtung, eine zu hohe Proteinzufuhr schade den Nieren, für (gesunde) Menschen ad acta gelegt (Siener 2021).

Inzwischen ist klar bewiesen worden, dass Mengen von 1.2g/KG und mehr erst die positiven Effekte auf Calcium und damit für die Knochen haben, die Protein zugeschrieben werden.

Für ältere Menschen schlägt die Forschung sogar in Positionspapieren für "rüstige ältere Menschen" 1-1,2 g/kg , für akut oder chronisch Kranke 1,2-1,5 g/kg und für ältere Menschen mit Mangelernährung bis zu 2 g/kg vor (Kiesswetter 2020, Phillips et al. 2022).

Jüngst (2016 & 2022) haben Phillips et al. als Standardwert für die Allgemeinbevölkerung 1.2-1.6g/KG herausgearbeitet, womit sie noch im moderaten Bereich des Spektrums der Wissenschaft liegen (Phillips et al 2016).

Fakt ist:

Die Referenzwerte der DGE sind veraltet.

Sie sind nicht "auf Basis neuer wissenschaftlicher Daten" entwickelt.


Literatur

Bartholomae E, Johnston CS. Nitrogen Balance at the Recommended Dietary Allowance for Protein in Minimally Active Male Vegans. Nutrients. 2023; 15(14):3159.

Elango, R., Humayun, M. A., Ball, R. O., & Pencharz, P. B. (2011). Protein requirement of healthy school-age children determined by the indicator amino acid oxidation method. The American Journal of Clinical Nutrition, 94(6), 1545-1552.

Kiesswetter, E. (2020). Mangelernährung im alter – screening und assessment. DMW - Deutsche Medizinische Wochenschrift, 145(18), 1299-1305.

Phillips SM, Chevalier S, Leidy HJ. Protein "requirements" beyond the RDA: implications for optimizing health. Appl Physiol Nutr Metab. 2016 May;41(5):565-72. doi: 10.1139/apnm-2015-0550.

Phillips, SM, Chevalier S, Leidy HJ. 2022. Correction: Protein “requirements” beyond the RDA: implications for optimizing health. Applied Physiology, Nutrition, and Metabolism. 47(5): 615-615.

Rand et al., Meta-analysis of nitrogen balance studies for estimating protein requirements in health adults. Am.J.Nutr 77(1):109-127, 2003.

Margrit Richter, Kurt Baerlocher, Jürgen M. Bauer, Ibrahim Elmadfa, Helmut Heseker, Eva Leschik-Bonnet, Gabriele Stangl, Dorothee Volkert, Peter Stehle, on behalf of the German Nutrition Society (DGE); Revised Reference Values for the Intake of Protein. Ann Nutr Metab 5 April 2019; 74 (3): 242–250.

Siener, R. Nutrition and Kidney Stone Disease. Nutrients 2021, 13, 1917. https://doi.org/10.3390/nu13061917

Deutsche Gesellschaft für Ernährung: Protein, online: https://www.dge.de/wissenschaft/referenzwerte/protein/ (7.12.2023).

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