Zwei Gründe, warum Stretching allein sinnlos ist

Stretching oder ‚Dehnen‘ ist noch immer die häufigste Form des Beweglichkeitstrainings.

Beweglichkeit zu trainieren bedeutet, den aktiven und passiven Bewegungsradius eines Gelenks zu erhöhen. Damit sind beispielsweise die vollständige Streckung und Beugung des Kniegelenks gemeint, aber auch die Fähigkeit, den Arm vollständig gestreckt über Kopf halten zu können.

Beweglichkeit ist ein elementarer Bestandteil körperlicher Leistungsfähigkeit.

Ein Sprinter braucht eine ausgezeichnete Beweglichkeit in Hüfte und Knien, um Geschwindigkeiten von fast 40km/h abrufen zu können.

Ein olympischer Gewichtheber muss eine ausgezeichnete Mobilität in Knien, Hüften, Sprunggelenken und Schultern, aber auch der Brustwirbelsäule besitzen, um sein doppeltes, manchmal dreifaches Körpergewicht in einer tiefen Kniebeuge über dem Kopf halten und stabilisieren zu können.

Stretching allerdings ist für solche Höchstleistungen alleine ein völlig sinnloses Unterfangen.

Beweglichkeitstraining mit externer Korrektur

Mobilität = Flexibilität X Stabilität

Stretching ist in den meisten Fällen eine passive Tätigkeit: durch einen behandelnden Therapeuten oder Hilfsmittel wird eine Struktur in eine Position gebracht, die über den ursprünglichen Bewegungsradius hinausgeht.

Das klassische Beispiel hierfür ist der Fußballer, der auf einem Bein stehend seine Ferse des anderen Beins in Richtung Gesäß zieht, um seinen Oberschenkel zu stretchen. Kein Fußballer wurde durch diesen Stretch jemals vor einem Muskelfaserriß im Oberschenkel bewahrt. Dennoch ist es vielleicht der häufigste Stretch, den Fußballer durchführen.

Stretches können, richtig eingesetzt, d.h. über die richtige Dauer, mit korrekt eingesetzter Pause, kurzfristig die Flexibilität verbessern.

Flexibilität ist der passive Bewegungsradius eines Gelenks. Kinder sind in aller Regel, bis sie in die Pubertät kommen, sehr flexibel. Jedes Kind kann sich in eine tiefe „Ass-to-Grass“-Kniebeuge setzen. Kaum ein Kind jedoch kann diese Position tatsächlich kontrollieren. Die Knie fallen relativ unkontrolliert nach außen, der Rücken wird eingerundet, das Absenken in die tiefe Kniebeuge gleicht mehr einem Fall als einer kontrollierten Bewegung.

Kinder haben ein hohes Maß an Flexibilität, weil ihr Gelenk große Bewegungsspielräume zulässt, aber sie haben ein geringes Maß an Mobilität, weil sie keine Kontrolle über ihre Flexibilität haben.

Diese Kontrolle ist das nötige Maß an Stabilität, um die Flexibilität gezielt einsetzen zu können.

Mobilität ist Flexibilität plus Stabilität.

Stretching alleine ist daher sinnlos, vor allem aus zwei Gründen.

Stretching ist eine passive Tätigkeit

Streng genommen stretcht man nicht, sondern wird gestretcht.

Im Beispiel des Fußballers von den eigenen Armen, im Falle eines Therapeuten durch einen Behandler, manchmal durch Hilfsmittel wie Bänder.

Dieses passive Stretching kann sehr gewinnbringend und angenehm sein, aber nicht alleinstehend. Passives Stretching ist auf eine Aktivität angewiesen, um Mobilität generieren zu können.

Es gibt zahllose Beispiele von sehr gelenkigen jungen Menschen – meist Frauen – die sich schwer und ernsthaft verletzen, weil ihnen die Stabilität in den Gelenken fehlt.

Der größte Benefit von Yoga liegt nicht darin, dass man passiv seine Muskulatur aufdehnt, sondern sich aktiv in Positionen zwingt und diese hält. Das ist gleichzeitig die Eigenschaft, die Yoga so anstrengend macht: Positionen einzunehmen und aktiv zu halten, die man vorher nicht einnehmen konnte.

Ich arbeite mit einer einfachen Regel:

Wem Stretching leicht fällt, der sollte weniger stretchen und mehr Krafttraining machen.

Wem Stretching schwerfällt, der sollte mehr Yoga machen.

Stretching vernachlässigt die neuronale Ansteuerung

Stretching geht häufig von der Prämisse aus, Muskeln seien ‚zu kurz‘ und müssten ‚verlängert‘ werden. Das ist falsch. Muskeln sind nicht zu kurz.

Sie können lediglich von unserem Hirn nicht über die volle Länge angesteuert und aktiviert werden.

Eine passive Tätigkeit wird daran jedoch nichts ändern. Lediglich eine aktive Einnahme von Positionen mit möglichst großer posturaler Kontrolle wird dafür sorgen, dass das Gehirn arbeiten muss und seine Ansteuerungsmechanismen verbessern muss.

Das ist, was Kindern noch fehlt und was sie über die Jahre lernen.

Und das ist, was fehlt, wenn Stretching allein für sich betrieben wird.

Die neuronale Ansteuerung wird verbessert durch gezieltes Krafttraining – und zwar am ehesten durch Maximalkrafttraining.


Aktives Beweglichkeitstraining: Der Turkish Get Up

Maximales Gewicht über den größtmöglichen Bewegungsradius eines Gelenks bewegt ist die beste Form des Beweglichkeitstrainings.

Um dort hinzukommen muss man verschiedene Tools einsetzen. Stretching kann eines sein. Aber sicher nicht das einzige.

Mobilität = Flexibilität + Stabilität