Einer der unterschätztesten Parameter im strukturierten Krafttraining ist das Tempo oder auch die Kadenz.
Der Begriff meint die exakte Angabe der Dauer jedes einzelnen Bewegungsteils und wird mit vier Zahlen angegeben. Jede der vier Zahlen beschreibt die genaue Dauer eines bestimmten Bewegungsteils: des Ablassens, des Haltens in einer Position, des Aufrichtens / Wegdrückens / Hochziehens und schließlich wieder des Haltens in der der ersten Halteposition entgegengesetzten Position.
Mit einer exakten Tempoangabe sind 15 Wiederholungen nicht unbedingt gleich 15 Wiederholungen: 15 Wiederholungen bei einem 3010 Tempo sind insgesamt 60 Sekunden durchgehende Belastung und Übungsausführung während 15 Wiederholungen bei einem 1010 Tempo nur 30 Sekunden durchgehende Belastung bedeuten – und damit unter Umständen einen völlig anderen Trainingseffekt.
Im Krafttraining ist es daher zwingend notwendig, jede Übung mit einer Tempoangabe zu versehen, weshalb auch die weitaus meisten meiner Päne eine solche Vorgabe explizit aufführen (tun sie es nicht, hat das ebenfalls einen Grund: jemand steht noch so weit am Anfang, dass er oder sie mit der Vorgabe noch nicht umgehen kann oder die Bewegung soll ohnehin schnell und ohne spezifische Tempoangabe ausgeführt werden, was häufig in den metabolischeren Kraftausdauer-Zirkeln der Fall ist).
1. Die vier Zahlen
Seit Charles Poliquin, einem einflussreichen kanadischen Strength Coach, gibt man Tempo standardisiert in vier Zahlen an: 4-2-1-0 - wobei sich auch manchmal, wie im obigen Bild, ein X findet: 4-2-X-1
Jede der vier Zahlen steht für einen bestimmten Teil der Bewegung und legt genau fest, wie lang dieser Teil dauern soll.
2. Die einzelnen Teile des Tempos
Die erste Zahl bezieht sich immer auf das ABLASSEN des Gewichts.
Bei der Kniebeuge ist das die Bewegung des in-die-Knie-Gehens, beim Klimmzug das Ablassen von der Stange Richtung Boden, beim Bankdrücken das Absenken des Gewichts auf die Brust.
Man nennt diesen Bewegungsteil auch die exzentrische Kontraktion: der Muskel dehnt sich unter Belastung. Diese Kontraktionsform sorgt für mechanische Spannung und ist damit der wichtigste Teil der Bewegung für den Aufbau von Masse und Kraft. Im exzentrischen Teil der Bewegung besteht allerdings in der Regel auch die größte Verletzungsgefahr, weshalb es sinnvoll ist, hier immer mit einem kontrollierten Tempo zu arbeiten.
Die zweite Zahl bezieht sich immer auf die Pause NACH dem Ablassen des Gewichts.
Die Zahl beschreibt die Dauer des Moments nach der exzentrischen Kontraktion und vor der konzentrischen Kontraktion, also zwischen Ablassen und Anheben des Gewichts. In der Kniebeuge ist es der Moment, in dem man unten in der tiefen Hocke sitzt, beim Klimmzug der Teil, wenn man mit ausgestreckten Armen an der Stange hängt und beim Bankdrücken ist es der Moment, in dem die Stange die Brust berührt.
Je nach Art der Übung kann diese Pause mechanisch vorteilhaft (Klimmzug) oder mechanisch unvorteilhaft (Kniebeuge, Bankdrücken) sein: mechanisch unvorteilhaft deshalb, weil die intramuskuläre Spannung extrem hoch ist und enorme Kräfte aufgewendet werden müssen, um hier pausieren zu können. In einer tiefen Kniebeuge mit Gewicht auf dem Rücken zu sitzen ist extrem schwierig und es ist eine erhebliche Menge von Körperspannung notwendig, um diese Position halten zu können, weshalb Pausen in der mechanisch unvorteilhaften Position sinnvoll sind, um die Kraftentwicklung weiter voranzutreiben oder Plateaus zu durchbrechen.
Bezieht sich die Pause jedoch auf die mechanisch vorteilhafte Position wie beim Klimmzug – das Durchhängen der Arme verlangt weniger intramuskuläre Spannung und ist daher eine vergleichsweise bequeme Position – kann sie genutzt werden, um ein gezieltes Erholungsmoment einzubauen und so eine weitere Wiederholung zu ermöglichen.
Die dritte Zahl bezieht sich auf das ANHEBEN des Gewichts.
Bei der Kniebeuge ist das das Aufstehen aus der tiefen Position, beim Klimmzug das Hochziehen zur Stange und beim Bankdrücken das Wegdrücken der Stange von der Brust – diese Phase ist die konzentrische Kontraktion. Der Muskel verkürzt sich.
Für die konzentrische Kontraktion wird häufig ein „X“ verwendet: diese Tempoangabe meint ein möglichst explosives Anheben des Gewichts.
Die konzentrische Kontraktion ist diejenige, die für Explosivität und Geschwindigkeit sorgt. Während durch die exzentrische Kontraktion extrem viel Ermüdung erzeugt wird, weil ein Gewicht abgebremst werden muss, ist die rein konzentrische Kontraktion deutlich ermüdungsresistenter und weniger verletzungsanfällig. Das ist auch der Grund, warum hier der metabole Aspekt größer ist: rein konzentrische Kontraktionen können in höherer Wiederholungszahl mit höherer Geschwindigkeit durchgeführt werden, was zum Beispiel das Air Bike zu einem guten Tool für ein metaboles Training macht, da eine konzentrische Kontraktion auf die nächste folgt aber kein Gewicht abgebremst werden muss.
Die vierte Zahl schließlich bezeichnet die Pause, nachdem das Gewicht angehoben wurde.
In der Kniebeuge ist das der Moment, wenn man wieder gerade steht, beim Klimmzug ist es die Position, in der das Kinn über der Stange ist und beim Bankdrücken die Position, in der die Arme komplett gestreckt sind.
Es gilt, was für die Pause nach dem Ablassen galt: je nach Übung kann diese Pause entweder mechanisch vorteilhaft (Kniebeuge, Bankdrücken) oder unvorteilhaft (Klimmzug) sein, und sie kann entsprechend spezifisch eingesetzt werden.
3. Lesebeispiele Tempo
Ein 42X1 Tempo für die Kniebeuge würde demnach wie folgt aussehen:
4 Sekunden ablassen – unten 2 Sek halten (Pause in mechanisch unvorteilhafter Position) – schnell hoch – oben 1 Sekunde halten (siehe auch Bild unten).
Für den Klimmzug hingegen würde ein 42X1 Tempo folgendes bedeuten:
4 Sekunden ablassen – unten 2 Sek aushängen (Pause in mechanisch vorteilhafter Position) – schnell hochziehen – über der Stange 1 Sekunde halten (Pause in mechanisch unvorteilhafter Position).
4. Exzentrik immer zuerst!
Der Clou hierbei ist, dass für den Klimmzug – und alle anderen Übungen, bei denen erst die konzentrische Bewegung (das Anheben des Gewichts) durchgeführt wird – umgedacht werden muss, da die erste Zahl des Tempos IMMER die Exzentrik beschreibt.
Die erste Bewegungsphase des Klimmzugs – das Anheben des Gewichts oder die Konzentrik – ist also die dritte Stelle der Tempoangabe.
Außer für den Klimmzug ist dieses Umdenken für alle Zug- und Druckübungen überkopf notwendig (siehe Bild unten).
5. Honour the Tempo
Die Tempoangabe ist ein zentraler Trainingsparameter um Trainingseffekt und -ziel möglichst exakt bestimmen zu können und zudem einer der vernachlässigsten Parameter in der Trainingsplanung überhaupt – sowohl von Coaches wie von Trainierenden.
Denn es ist der Parameter, der das Ego vor eine harte Probe stellt: konnte man beispielsweise ein Gewicht von 100kg in der Kniebeuge mit einem 1010 Tempo locker bewältigen, wird das wahrscheinlich unmöglich, wenn ein 4210 Tempo daraus wird.
Das Tempo ist damit eine extrem wichtige Intensitätstechnik zur Trainingssteuerung, die es uns erlaubt, auch ohne Manipulation des Gewichts neue Reize zu setzen.
Das Motto jeglichen strukturierten Trainings muss daher lauten: Honour the Tempo.
Viel Erfolg mit der Implementierung des Parameters Tempo.