Eine Menge Gründe, warum du mehr gehen solltest. Und die besten Tipps, die jede*r kennt, aber niemand beherzigt, um das auch zu schaffen

`Gehen` ist die basalste Art menschlicher Fortbewegung.

85% der Menschen, denen ich in meiner täglichen Praxis begegne, laufen im Wochenschnitt weniger als 5000 Schritte pro Tag.

Der Durchschnitt von WesteuropäerInnen lag 2018 bei etwas weniger als 4000 Schritten pro Tag.

`Gehen` ist nicht reiner Selbstzweck, wie in der Kulturgeschichte des Flanierens oft behauptet.

`Gehen` ist auch nicht das Mittel schlechthin, um Körperfett zu verlieren (wenngleich es gut funktioniert).

`Gehen` ist vor allem nicht das, was man tut, wenn der Bus nicht kommt.

`Gehen` ist im Grundsatz, wofür der Körper einst designet wurde, wenn man kreationistisch argumentieren möchte – doch selbst wenn man es nicht tut, muss man anerkennen, dass der Mensch sich in seinen Anfängen noch etwa 5- bis 6-mal soviel bewegte wie er es heute tut.

Die körperliche Veränderung hat sich weit weniger rasch vollzogen: unsere Körper sind mit unseren Vorfahren aus der Steinzeit immer noch nahezu identisch, mit einigen marginalen Veränderungen.

Konkret sind wir also in den allermeisten Fällen im Besitz eines Sportwagens – und fahren eine Spielstraße mit Schrittgeschwindigkeit auf und ab.

Manchmal sollte man einfach gehen (Foto: ©Anne Kupke)


Wir können uns auch einfach nicht bewegen…

Es gibt kaum externe Gründe, die stichhaltig sind, wenn man jemandem Bewegung verschreiben möchte.

Du musst dich mehr bewegen, weil…. Ist immer ein schlechtes Argument.

Weil ein von Außen herangetragenes „Müssen“ uns in die Rolle des Kindes versetzt, das extern etwas vorgeschrieben bekommen, dessen Sinnhaftigkeit es nicht versteht.

Und Fakt ist: es gibt heute kaum mehr externe Gründe, die uns dazu nötigen würden, uns mehr zu bewegen – wir können wunderbar ohne Bewegung überleben (oder mit einem Minimalkatalog an Bewegung: Bett – Bad – Küche – Auto – Aufzug – Büro – Kantine – Kaffee – Schreibtisch – Aufzug – Auto – Restaurant – Toilette – Bett).

Bewegung ist nichts, was man im 21. Jahrhundert aus extrinsischen Gründen tun müsste. Unser Essen läuft uns nicht weg, im Gegenteil, inzwischen kann ich andere für die Bewegung bezahlen, dass das Essen zu mir kommt.

Ich sehe regelmäßig KundInnen, die abends auf ihre smarten Watches blicken und feststellen, dass sie sich am kompletten Tag weniger als 1000 Schritte bewegt haben. Und es ist nicht so, dass sie es nicht wollten – es bestand einfach keine Notwendigkeit.

Wann immer wir etwas nicht tun müssen, damit wir überleben, müssen wir aktiv entscheiden, es zu tun. Und unsere Kapazitäten für aktive Entscheidungen sind begrenzt. Wir haben nur eine begrenzte Zahl an Disziplin zur Verfügung, um uns täglich für etwas zu entscheiden, was wir nicht unbedingt tun müssen – und je mehr wir im Leben um die Ohren haben, desto weniger Kapazität bleibt uns.

Fest steht: nichts zwingt uns, uns zu bewegen – wir können uns einfach nicht bewegen, und um uns herum funktioniert dennoch alles.


Oder wir hören mal auf uns.

Richtig: auch ohne Bewegung funktioniert alles um uns herum.

Und alles in uns? Immer schlechter.

Denn es gibt sehr wohl Gründe für Bewegung – und sie sind intrinsisch. Unser Körper möchte sich mehr bewegen.

Jeder gesunde Körper möchte sich bewegen (zumindest wenn man dem Körper einen Willen zuschreibt). Nicht immer, und nicht immer viel, und nicht immer lange – aber jeder gesunde Körper möchte ein Mindestmaß an Bewegung.

Woher wir das wissen?

An der Reaktion, die folgt, wenn wir es nicht tun.

Die Studienzahl zum Thema mangelnde Bewegung und Krankheitsbildern ist Legion.

Wir wissen, dass Bewegungsmangel zu Depression, Angstzuständen, Übergewicht, Herz-Kreislauferkrankungen, erhöhtem Stresslevel, geringerer kognitiver Kapazität, weniger Muskelmasse, mangelnder Koordination, höherem Blutdruck, weniger Hirnaktivität, Entscheidungsträgheit, niedrigem Energielevel, hormonellen Dysbalancen, einem schwachen Immunsystem und vielem mehr führen kann. Und auch wird.

Mangelnde Bewegung ist durch nichts auszugleichen.

2h Krafttraining pro Tag wird einen Tagesschnitt von 1000 Schritten nicht ausgleichen.

Bewegung ist die Grundlage für Gesundheit und Wohlbefinden. Bewegung ist die Grundlage für unsere hormonelle Balance, für Energie und Regeneration.

In der Regel empfehle ich zwischen 6000 und 8000 Schritten pro Tag, weil das den höchsten Kosten/Nutzen-Faktor hat (ab etwa 7700 Schritten wiegen die zusätzlichen gesundheitlichen Benefits das Zeitinvest nicht wirklich auf, weshalb etwa 8000 die magische Zahl ist).

Das entspricht ungefähr zwei Spaziergängen von etwa 20 Minuten Länge.

Zwei? Spaziergänge? Pro? Tag?

ArbeitKindHausFamilieBauenSaugenEinkaufen – die Argumente gegen 40 Minuten täglicher Bewegung sind ebenso Legion wie die Gründe dafür, es zu tun.

Es scheint unproblematisch zu sein, täglich mehrere Stunden an elektronischen Endgeräten zu sitzen und bewegte Bilder zu konsumieren, es scheint ebenso unproblematisch zu sein, genauso lange Zeit in Meetingräumen zu verbringen und Worte auszutauschen, es scheint jedoch ein Problem zu sein, 40 Minuten am Tag in Bewegung zu investieren.

How to Walk: 4 Tipps

Die entscheidendste und am häufigsten gestellte Frage ist also das Wie. (Streng genommen wird die Frage nicht gestellt: es wird einfach behauptet, die Zeit dafür sei nicht da.)

Wie schafft es jemand, der einen vollen Terminkalender, viel Verantwortung und 12h Arbeit am Tag hat, sich ausreichend zu bewegen?

Die Antworten darauf sind inzwischen so abgegriffen, dass man sie mit etwas Glück sogar in der Fit for Fun finden könnte.

  • `Gehende` Telefongespräche und Zoom-Calls.

Die weitaus meisten sind inzwischen mit einem Bluetooth-Headset ausgestattet. Die weitaus meisten haben ihre Kamera häufig aus, weil sie nicht möchten, dass man die Benjamin-Blümchen-Schlafanzughose sieht, in der sie arbeiten.

Fair enough. In diesem Setting ist ein Spaziergang oder zumindest ein auf-und-ab-Laufen in der eigenen Wohnung nicht nur denkbar, sondern sogar sinnvoll.

  • Morgenspaziergang.

Es gibt kaum eine Routine, die sich so oft empfehle und die so selten umgesetzt wird, wie der Morgenspaziergang. Die erste Tätigkeit des Tages sollte ein Spaziergang sein.

Die Vorteile des Daily Walk sind so zahlreich, dass es den Rahmen sprengen würde, sie hier zu wiederholen.

Unser gesamtes hormonelles System und unsere sog. Clock Genes profitieren davon, den Körper direkt am Morgen dem Tageslicht und einer moderaten Belastung auszusetzen. Unser Cortisol/Melatonin-Rhythmus wird durch diese Praxis positiv beeinflusst, wir haben mehr Energie und kommen abends besser zur Ruhe. Unser Stoffwechsel wird angeregt.

Wir wirken indirekt auf unser Wohlbefinden und die geistige Klarheit – und tun damit mehr für uns als mit jeder anderen Praxis, in die wir Zeit investieren können.

  • Mittagsspaziergang

Routinen brauchen meist einen sog. „Anchor Habit“ – also eine Handlung, die der eigentlichen Routine vorausgeht und es uns so erleichtert, die Routine auszuführen.

Nichts eignet sich besser als ein kurzer Spaziergang nach dem Mittagessen.

Es hilft der Verdauung und dem Kopf, entlastet die Augen und damit das Gehirn, weil wir von der dauernden Nahsicht (auf Bildschirme und in Gesprächen mit KollegInnen) umstellen müssen und unsere Augen so entlasten. Wir geben uns selbst somit eine Ruhepause und tanken wortwörtlich neue Energie.

Der Mittagsspaziergang markiert auch kognitiv eine Zwischenphase, in der der Vormittag gedanklich verarbeitet und der Nachmittag gedanklich vorbereitet werden kann, was nachweislich die Produktivität steigert.

  • Der Geh-Termin

Im Alltag sind Verbindlichkeiten für die meisten Personen immer etwas, dem sie nachkommen wollen. Wir legen uns Termine und zwingen uns, sie einzuhalten.

Den „Daily Walk“ zu terminieren mag zunächst etwas sehr ambitioniert erscheinen, aber letztlich steht er auf der exakt selben Bedeutungsebene wie das Meeting mit dem oder der Vorgesetzten, wie das Abendessen mit den Schwiegereltern oder der Projektabgabetermin.

Auszeiten zu terminieren mag kontraintuitiv erscheinen, aber wenn Verfügbarkeit immer mit verfügbar für Arbeit gleichgesetzt wird, wie es in den Kalendern von 1000-Schrittlern häufig der Fall ist, muss nicht-Verfügbarkeit terminiert werden, zumal die Nicht-Verfügbarkeit das wichtigste Meeting des Tages ist: das mit der eigenen Gesundheit.

Crawling - eine Möglichkeit des Gehens auf allen Vieren. Aber normales Gehen tut es völlig. (Foto: ©Anne Kupke)


Bringing it all together: Spazieren vs. Cryo-Therapie

Das Problem mit Lösungen, die so einfach sind, so frei verfügbar und so kostenlos sind, dass sie jede*r umsetzen kann, ist, dass keine*r sie ausführt.

Der Wert kostenloser und einfacher Informationen wird kolossal unterschätzt und der Nutzen von Spezial-Interventionen extrem überschätzt.

Tatsächlich ist die Zahl derer, die sich vorstellen könnten, Cryo-Therapie zur Regeneration einzusetzen, weit höher als die Zahl derer, die sich vorstellen könnten, täglich 40 Minuten spazieren zu gehen.

Das ist aus vielen Gründen schade, vor allem aber ist es kontraintuitiv. Denn keine Strategie zur Verbesserung von Regeneration, Wohlbefinden und mentaler sowie physischer Balance funktioniert so zuverlässig und nachhaltig wie der tägliche Spaziergang.

Viel Erfolg mit dem täglichen Spaziergang in der Praxis.

Pragmatisches Coaching?