„Functional Training“: Über einen Fitnesstrend, der zum Synonym für Zerstörung wurde (Teil 1: Warm Up)

Bear Walk als Warm Up, 10 Sätze Tiefkniebeugen im Hauptteil und 100 Burpees mit 50 Treppenläufen als HIIT-Finisher – viele Trainingsprogramme sehen inzwischen so oder so ähnlich aus. ‚Metabolic Conditioning‘ heißt das Zauberwort und viele Trainer sprechen vom fantastischen Nachbrenn-Effekt solcher Einheiten.

Das mag seine Berechtigung haben – vor allem in Bezug auf solche Trainierenden, die (noch) nicht die Voraussetzungen für solche Programme haben. Denn häufig brennt es danach, aber anders, als intendiert.

In 3 Teilen erklären wir hier, wie aus einer guten Idee ein gefährlicher Trend wurde.

Einer unserer Outdoor-Kurse mit Elementen aus dem Functional Training

Functional Training und Metabolic Conditioning

‚Conditioning‘ ist im Grunde nichts anderes, als die zielgerichtete Erhöhung der Ausdauer um den Körper Schritt für Schritt für längere oder intensivere Belastungen bereit zu machen. Auch ein Conditioning-Programm erfordert eine schrittweise Adaption des Körpers – wie jedes Ausdauertraining.

Metabolic  bezieht sich auf den Stoffwechsel, meint in diesem Fall also vor allem das kardiovaskuläre System.

Metabolic Conditioning kommt aus dem CrossFit und wird inzwischen fast synonym verwendet mit "Functional Training": beides sind Formen des Fitnesstrainings, die in der landläufigen Meinung vor allem eines sind: anstrengend.

Geht man in einen "Functional"-Kurs oder macht ein "MetCon", dann erwartet man, dass man danach schwitzend und keuchend auf dem Boden liegt, um Luft ringend. Die Qualität von Kursen und Workouts wird am Grad der Anstrengung festgemacht.

Das kann man sinnvoll oder recht bescheuert finden, aber man wird vor allem eines konstatieren müssen: es ist gefährlich.

Warum?

Ein einfaches Beispiel. Auch ein Trainierender mit unzureichender Vorbereitung und unzureichendem Trainingsstand würde, im guten Fall, einen Halbmarathon laufen können. Er würde sich damit nur wohl keinen Gefallen tun – die als Muskelkater bekannten muskulären Schmerzen wären wohl zu ertragen, allein die Belastung für Bänder und Gelenke könnte zu einem medizinischen Problem werden. Nicht nach einer solchen Überlastung, aber mit Sicherheit bei wiederholter intensiver Belastung, die nicht dem Trainingsstand entspricht.

Das lässt sich nahezu 1:1 auf den Fitnessportler übertragen, der sich in regelmäßigen HIIT-Einheiten ‚auspowert‘. Fast alle neueren, im Trend liegenden Fitness-Programme und Apps setzen auf High Intensity-Workouts, damit ihre Klienten und Kunden sich nach kurzen, hochintensiven Workouts standesgemäß ‚erschöpft‘ und ‚zerstört‘ fühlen. Das hat alles seine – auch wissenschaftlich fundierte – Berechtigung, allerdings fehlt hier gerade im allgemeinen Breitenfitness-Sport in den Studios ein Bewusstsein für die individuelle Anpassung solcher HIIT-Einheiten. 

Konkret gesagt: HIIT, Functional, MetCons - für die meisten Menschen ist das vom Belastungsgrad her vergleichbar mit einem Halbmarathon, den man mal eben nach Feierabend oder zwischen zwei Terminen abreißt.  Das Problem ist also nicht die Trainingsmethode an sich, sondern die fehlende "Readiness", sie durchführen zu können.

Primal Movement als Mobilisierung und Warm Up-Programm?

Crawling

Viele der modernen ‚Functional‘-Kurse setzen auf sogenannte Primal Movements als Warm Up und Mobilisierung: ganze Kurse robben über den Boden und man nennt es ‚Bear  Crawl‘.

Der Bear Crawl ist eine wunderbare und sehr effektive Bewegungs-Übung, die im Athletiktraining in fast jeder Sportart ihren Platz haben sollte.

Kommt Lieschen Müller aus dem Büro, hat 9 Stunden gesessen, sich kaum bewegt und im besten Fall noch Schuhe mit Absätzen getragen, erreicht gerade so abgehetzt den HIIT-Kurs und beginnt mit einer Übung, die extrem voraussetzungsreich für Beweglichkeit, Stabilität und Kraft ist, sind auf Dauer Probleme vorprogrammiert.

Die meisten Animal Walks wie bspw. der Bear Crawl verlangen eine immense Beweglichkeit in Hüfte und Becken, um eine neutrale Wirbelsäule in der Bewegung aufrechterhalten zu können. Fehlt die Beweglichkeit, muss die Rückenmuskulatur viel Arbeit übernehmen und erhält zusätzlich Spannung – was durch die ständig sitzende Haltung ohnehin schon der Fall ist. Die Schmerzen, die aus 5x10 Metern Bear Crawl entstehen, werden als ‚Muskelkater‘ abgetan, sind aber Symptom einer Überbelastung, die aus mangelnder Beweglichkeit resultiert.

Das zweite Problem entsteht häufig im Bereich der Schultern, die muskulär nicht stark genug sind, um das Körpergewicht während der fordernden Bewegung halten zu können. Auch hier entsteht eine Überbelastung, die auf Dauer schädigend auf die Bandstrukturen um die Gelenke wirkt.

Dabei ist ein Animal Walk eine wunderbare Möglichkeit, basale Movements und sog. Movement-Patterns wieder zu erlernen – und ein Functional Training-Kurs wäre der richtige Ort dafür.

Das elementare, basale Krabbeln auf allen Vieren auf kleinem Raum und mit kontrollierter Bewegung erlaubt dem Körper tatsächlich, sich an komplexe Bewegungsabläufe zu gewöhnen, aber Schritt für Schritt und unter progressiv wachsender Belastung.

Es fordert den Kunden mit zunehmender Dauer ebenso sehr wie die Profi-Variante, erlaubt ihm aber, strukturenschonender vorzugehen und die Primal Movements als das zu nutzen, was sie sind: Vorbereitung auf kommende Bewegungen.   

Auch für die Warm Up-Phase gilt also: nicht auf die größtmögliche Intensität in extrem kurzer Zeit setzen um das gesamte System von Null auf Hundert in einem Stoppuhr-Umlauf zu bringen, sondern den Kunden dort abholen, wo er steht. Nämlich am Ende eines 9-Stunden-Bürotages mit wenig Bewegungserfahrung und erheblichen Bewegungseinschränkungen.

Was aber gemacht wird, ist das Gegenteil davon. Lieschen Müller crawlt, bis der Rücken brennt, dann macht sie ein paar Shuttle Runs (kurze Sprints zwischen zwei Hütchen), hält einen Stütz, bei dem ihr fast der Rücken durchbricht und macht zum Abschluss noch mehr Kniebeugen zum "Aufwärmen", als sie in den letzten 5 Jahren als Training gemacht hat.

Die Folge: völlige Ermüdung, die im allgemeinen Dopamin-Rausch des Kurses untergeht. Lieschen Müller merkt nicht einmal, wie erschöpft sie eigentlich schon ist.

"Funktional" war für sie an diesem Warm Up gar nichts - außer der Tatsache, dass sie schon jetzt mit einem Hormoncocktail belohnt wird, der dafür sorgt, dass sie sich gut fühlt. Noch.

Denn unser Functional-Kurs hat gerade erst begonnen. Wie wir Lieschen Müller im Hauptteil vollends zerstören können, lest Ihr im zweiten Teil der Serie.