Warum Benchmarks wichtig sind. Und warum die wichtigsten dennoch von keinem Coach getrackt werden.

Fresh zurück aus der Sommerpause gehen wir doch direkt mal in medias res - und kümmern uns um die Frage, die jeden Trainee beschäftigt: wie tracke ich eigentlich meinen Trainingsfortschritt? 

Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, Entwicklungen und Verbesserungen zu tracken, Coaches nennen sie 'Metrics'. Wir nutzen sie ständig: wie schnell bist du die 10km gelaufen? Wieviel drückst du auf der Bank? Wie weit kommst du bei der Kniebeuge nach unten? Wie hoch springst du? Benchmarks sind für Coaches und Trainierende gleichermaßen wichtig – aber die wichtigsten hat keiner auf dem Schirm.

trainingsfortschritt-messen

Benchmarks und ihr Sinn im Training und Coaching

Viele Trainierende wollen sich nur bewegen, das Gefühl haben, ‚etwas getan‘ zu haben. Doch irgendwann kommt – hoffentlich – der Punkt, an dem das zu wenig wird. Wo in uns der Wunsch wächst, unsere Trainingserfolge nachvollziehen zu können. Und für viele ist die sinnvollste Möglichkeit dazu, bestimmte Metrics, also Daten, im Verlauf der Trainingsjahre im Blick zu behalten.

Metrics erlauben uns, Entwicklungen nachvollziehbar zu machen und Fortschritt abbilden zu können.

Ich persönlich tracke viele Metrics bei meinen Kunden, sie reichen von bestimmten Beweglichkeitstests über Ausdauer-Werte, Leistungen in Relativ- und Maximal-Kraft bis hin zu Metrics der funktionellen Kraft. Hinzu kommen Basics wie das Gewicht, Körperfett, Muskelmasse, Optik und einige andere Parameter, die Schlaf und Lebensführung betreffen.

Meine Kunden wollen sehen, was sie leisten. Sie möchten wissen, wo sie sich verbessert haben und ich bin es ihnen schuldig, das nachweisen zu können. Es ist meine Form der Buchhaltung und sie rechtfertigt meine Dienstleistung.

Im Training von Athleten ist diese Buchhaltung noch viel wichtiger, sie offenbart Stärken und Schwächen, ermöglicht es, fokussiert an bestimmten Bereichen zu arbeiten und gezielt dort anzusetzen, wo es Schwierigkeiten gibt.

Während wir bei Athleten/innen relativ spezifisch vorgehen und die Aspekte verbessern, die für den jeweiligen Sport relevant sind, geht es bei allen anderen um die Herstellung von so etwas wie einer Alltagsathletik – ein bekanntes PT-Studio aus München hat diese Zielsetzung unter dem schönen Motto Athlet des Lebens gefasst.

Mehr Trainingsfortschritt? Lass uns darüber sprechen.

Benchmarks der Athleten des Lebens? Well-Being.

coach hilfe beim handstand

Was also sind Benchmarks dieser Alltagsathleten, was interessiert mich an Leistungen?

Nun, auch hier sind bestimmte Kraftwerte wichtig, es ist wichtig, bestimmte Ausdauerleistungen erbringen zu können, sich in bestimmten Radien schmerzfrei bewegen zu können – und es ist sinnvoll und wichtig, hierfür Metrics zu tracken. Je nach Trainings- und Lebensalter kann man dann davon sprechen, dass jemand fit ist oder ein solides Fitnesslevel erreicht hat.

Und eine gewisse Fitness trägt definitiv zu einem gesunden Leben bei – aber Training hat im Bezug auf Gesundheit noch eine viel wichtigere Aufgabe.

Denn egal, was jemand tut, ob es Krafttraining, Yoga, Lauftraining, Kurse im Studio, Reiten, Fußball, Triathlon, Schwimmen, Walken ist – im Vordergrund sollte etwas stehen, was wir als Well-Being aus dem Englischen entlehnen können und was mit Wohlbefinden nur unzureichend übersetzt ist.

Well-Being ist ‚Wohlsein‘, also ein Zustand, der über bloßes Befinden hinaus geht.

‚Sein‘ ist mehr als ‚sich fühlen‘ – und ‚Wohlsein‘ sollte das ultimative Ziel jeglichen Trainings sein, das auf Langlebigkeit und Gesundheit ausgerichtet ist.

Well-Being ist damit etwas kategorial anderes als sportartspezifisches Athletiktraining. Kein Athlet soll vorrangig ‚wohl sein‘, sondern funktions- und leistungsfähig für seinen Sport. Kein Boxer würde in den 12 Wochen der unmittelbaren Kampfvorbereitung behaupten, ‚wohl zu sein‘. Im Gegenteil, er schwankt zwischen schmerzvoll, übertrainiert, ausgehungert und aggressiv.

Training für ‚Well-Being‘ ist damit etwas gänzlich anderes als Training für Performance. Daher müssen auch die Metrics, die wir dafür in Anschlag bringen, andere sein.

Können wir 'Wohl-Sein' messen? Metrics für Well-Being

Ich muss einer unerbittlichen Tatsache ins Auge blicken: Keinen wird es, wenn ich 80 bin, interessieren, ob ich 150kg gebeugt habe, als ich jung war. Mein PR wird angestaubt in einem Trainingsjournal stehen. Performance-Metrics sind temporär und gültig immer nur für begrenzte Zeiträume. Sie haben Aussagekraft nur kurz- oder maximal mittelfristig.

Wenn es mir aber um Well-Being geht, dann sehe ich das Gesamtbild. Dann möchte ich einen Zustand erreichen, der andauert. Und für die weitaus meisten Menschen ist das ein Zustand, in dem sie Energie haben, nach draußen zu gehen, Dinge zu sehen und zu erleben, in dem sie in der Lage sind, die Natur zu erkunden, auf Reisen zu gehen, mit ihren Kindern und Enkelkindern zu spielen, in dem sie Freude daran haben, aktiv zu sein

betende teilnehmerin

Enter: Vitality

Das ist Vitalität.

Vital zu sein ist ein Wort, das der Apotheken-Umschau entlehnt scheint, aber beschreibt einen Zustand, den wir in jungen Jahren voraussetzen und im Alter herbeisehnen: einen Zustand, in dem wir gesund genug sind, aktiv zu sein, uns bewegen zu können und selbständig und frei alles tun zu können, was wir möchten. Und, auch das ist wichtig, den inneren Drang haben, etwas zu tun und nicht eingefallen auf der Couch vor uns hinvegetieren. Denn Vitalität bedeutet auch, dass die Durchblutung funktioniert, das cardiovaskuläre System bewegt werden möchte und der Körper Aktivität braucht.

Ein zweimal am Tag trainierender Athlet ist nicht vital. Er trainiert, isst, schläft, trainiert und isst. Er würde nicht auf die Idee kommen, seine Energie in eine 3stündige Wanderung zu investieren. Wenn wir das aber möchten, müssen wir vital sein. Und um zu sehen, ob unser Training diesen Wunsch unterstützt, ist es ratsam, sein Vitalitätslevel zu hinterfragen.

Vital sein heißt übrigens nicht getrieben zu sein, zwei Zustände, die oft verwechselt werden.

‚Die ist ja ständig unterwegs‘ hat nichts mit Vitalität zu tun, denn Vitalität hat eine zusätzliche Sinnebene, die in Richtung ‚Zufriedenheit‘, ‚selbstgewählte Aktivität‘, ‚Freude an Bewegung‘ geht, und nicht so sehr in Richtung des modernen ‚auf allen Hochzeiten tanzen‘-Müssens, das eher ein sich-nicht-entscheiden-Können denn ein ‚sich-zur-Aktivität-Entscheiden‘ ist.

Vitalität einmal verstanden ist etwas, das hinterfragt werden kann und sollte – denn wenn unser Training das mit uns tut, was es sollte, dann macht es uns: vitaler.

Trainieren für mehr Vitalität? Kontrolle? Balance? Stabilität?

Woran mache ich fest, wie vital ich bin? Vitalität tracken

springender trainee

Am einfachsten ist das auf einer Skala von 1-10, die wir jeden Sonntag ausfüllen. Wie vital habe ich mich diese Woche gefühlt? Wie bereit war ich, neben der Arbeit und dem Training Dinge zu unternehmen, die Natur oder andere Dinge zu erleben? Vitalität kann auch Alltägliches wie Wäsche waschen, kochen, spazieren umfassen – bin ich dafür vital genug?  

Ich plädiere stark dafür, einen Wert, der dauerhaft unter 5 liegt, kritisch zu hinterfragen. Trainiere ich zu viel, habe ich zu viel Stress, gönne ich mir ausreichend Ruhe?

So beobachtet, wird Vitalität zum subjektiv-objektivsten Metric, das wir haben. Unser Vitalitätslevel gibt mehr Ausdruck über unseren Trainingserfolg als alle PRs, Laufzeiten, Liegestützen, Kilogramm auf der Waage und Körperfettmessungen. Vital ist, wie ein Körper sich fühlt, wenn er gesund ist. Vitalität umfasst Ernährung, Schlaf, Training, Hormone – und braucht im Grunde nur einen anderen Wert, um unseren körperlichen Zustand komplett abbilden zu können.

Enter: Sex

schlafender hund

Wer bis hierher gelesen hat, hat es wegen Sex getan.

Sex ist eine der singulärsten Tätigkeiten des Menschen. Jared Diamon hat sich in seiner „Evolution der menschlichen Sexualität“ bereits gefragt, warum Sex „Fun“ ist und es als human-originär beschrieben, dass wir Sex – im Gegensatz zu allen anderen Lebewesen und zumindest soweit wir wissen – aus Gründen der Freude betreiben.

Sex ist eine Tätigkeit, die in vielerlei Hinsicht auf Vitalität beruht. Sex verlangt eine gute Durchblutung des Körpers, ein gewisses Maß an Entspannungsgefühl und ein niedriges Stresslevel.

Fühlt man sich krank, ist die Libido, die Lust auf Sex, meist abgeschwächt. Das hängt mit komplexen hormonellen Vorgängen im Körper zusammen, ist für uns aber ein sehr guter Indikator für ‚Well-Being‘. Je wohler wir sind, desto größer ist in aller Regel unser Sex-Drive. Ein ausgeruhter, aber bewegter Körper, der nicht übermäßig gestresst aber auch nicht völlig überfordert ist, in hormoneller Balance, entwickelt einen gewissen Sex-Drive. Uns dessen bewusst zu sein ist eines unserer mächtigsten Tools, um Unter- und Überforderung beim Training zu tracken.

Sex-Drive als Metric

Wenn wir uns die Frage, wie es um unsere Libido steht, ehrlich und offen wöchentlich beantworten, werden wir viel über unseren Zustand herausfinden. Bin ich ausgeglichen, ausgeruht, gesund? All diese Dinge stecken in der Antwort auf die Frage verborgen.

Wir finden so sehr viel über unseren hormonellen Status heraus, sei es als Mann oder Frau, wir können feststellen, ob wir uns in der vergangenen Woche unter- oder überfordert haben.

Ein dauerhaft reduzierter Sex-Drive mit Mitte 20 deutet mit einiger Wahrscheinlichkeit darauf hin, dass etwas im Ungleichgewicht ist – sei es im Training, der Ernährung oder der Regeneration.

Unsere Libido ist wie kaum etwas anderes in unserem Körper Ausdruck unseres unmittelbaren Zustandes, sie reagiert relativ schnell und sensibel auf Veränderungen.

Auf sie zu achten und sie uns bewusst vor Augen zu führen ist mehr als Sex – es ist einer der Schlüssel zu well-being.

Enter: Mental Acuity. Oder auch: Wie geht es eigentlich deinem Kopf?

In alldem sollte klargeworden sein, dass wir den Körper als eine Einheit sehen müssen – und dieser holistische Blick erfordert auch, unseren Geist mit in die Gleichung aufzunehmen.

Unser mentaler Zustand, unsere geistige Wachheit, mental acuity (Schärfe), wie die Amerikaner sagen, ist der letzte Punkt, der uns wichtig sein und dem wir im Auge haben sollten.


Es gibt viele Studien, die zeigen, wie sehr Bewegung auf den Geist wirkt, und was regelmäßiger Sport geistig mit uns macht. Er macht uns aufmerksamer, wacher, wir können besser lernen, das Gedächtnis funktioniert besser, wir können Verknüpfungen schneller herstellen – genau bis zu dem Punkt, wo daraus ein ‚Zuviel‘ wird. Dann leidet die Versorgung unseres Gehirns, weil die Nährstoffe anderweitig gebraucht werden, wir verlieren kognitive Kapazitäten, weil wir zu sehr damit beschäftigt sind, unseren Körper zu fordern und die Energie im Kopf fehlt.

Wir müssen also den Zustand finden, in dem Training uns die geistige Schärfe bringt, die wir für unser Leben benötigen. Wir möchten wach, aufmerksam und interessiert durch unser Leben gehen, und all das verbirgt sich hinter dieser Formel der ‚mental acuity‘.

Unser Hirn funktioniert chemisch, genauso wie es unser ‚Körper‘ tut – ein gesunder Geist ruht in einem gesunden Körper. Was geistige Gesundheit ist, ist interessanterweise viel weniger mit Benchmarks hinterlegt als die körperliche.

Wie ‚wach‘ sollte unser Geist sein? Was ist das kognitive Pendant zur Kniebeuge mit Körpergewicht auf dem Rücken? Ich schlage vor, dafür verschiedene Faktoren anzusetzen.

Wir sollten so klar sein, dass wir uns vier- bis sechsstellige Zahlen merken können.

Wir sollten in der Lage sein, uns über einen Zeitraum von mindestens 30 Minuten auf eine Sache zu konzentrieren, ohne uns ablenken zu lassen (was etwas kategorial anderes ist als abgelenkt zu werden).

Wir sollten so klar sein, dass wir uns 100 Menschen mit Namen und Gesicht merken können.

Wir sollten in der Lage sein, einen fünfseitigen Text zu lesen und den Inhalt wiederzugeben.

Wir sollten fähig sein, einfache Entscheidungen nach kurzem Überlegen treffen zu können.

Wir sollten so klar sein, dass wir uns Dinge merken, die für Menschen in unserem engsten Umfeld wichtig sind. Dazu zählen Jahrestage, Geburtstage, Geschichten.

Wir sollten so wach sein, dass wir uns mit Dingen beschäftigen möchten, die nichts mit unserer Arbeit zu tun haben und in die wir uns hineinversenken können.

All das sind Aspekte von mental acuity. Erinnerung, Konzentrationsfähigkeit, Aufmerksamkeit in Gesprächen, Neugier, Interesse. Wenn es uns gelingt, diese Faktoren in Metriken umzuwandeln – dann haben wir ein Abbild unserer geistigen Gesundheit.

Eine gesunde Lebensführung trägt zu einer geistigen Gesundheit bei und sollte das tun. Training, das uns überfordert und ausgebrannt hinterlässt, tut das nicht.

Bringing it all Together: Realtalk

Am Ende des Tages bist du tot. Das ist die harsche Realität, in der wir leben und mit der wir umgehen müssen. Unser Körper wird altern und sich auf den Verfall zubewegen.

Fitness, Gesundheit, Schlankheit, Beauty – all das sind vordergründig Mechanismen, diesen Alterungsprozess hinauszuzögern einerseits und ihn weniger sichtbar werden zu lassen andererseits. Hintergründig ist es die Angst davor, zu sterben.

All das sind aber auch Tools, mit denen wir uns innerhalb unseres Lebens wohler fühlen – mit Hilfe derer wir wohler sind. Alle Tools haben ihre Daseinsberechtigung und jemand, der dem Fitnesswahn anheimgefallen ist aber Schönheitsoperationen verteufelt hat nicht verstanden, dass beide Maßnahmen derselben Angst entsprungen sind. Zurückführen kann man jede Maßnahme, mit der ich gesünder, jünger, fitter werden möchte, auf drei Fragen:

Macht es mich vitaler (das heißt koste ich mein Leben mehr aus)?

Erhöht es meine Libido (das heißt wirkt es positiv auf meinen Hormonhaushalt)?

Macht es mich geistig wacher und klarer (das heißt wirkt es auf meine geistige Gesundheit)?

Welches Training auch immer deins ist, welche Form der Bewegung und der Gesunderhaltung du bevorzugst – am Ende kannst du sie immer auf diese drei Fragen zurückführen. Je ehrlicher du sie für dich beantwortest, desto ehrlicher kannst du für dich feststellen, ob das, was du tust, das Richtige für dich ist.

Mein Thema ist Training. Gutes Training ist das Training, was mich und meine Kunden/innen vitaler, ausgeglichener und geistig wacher macht – und sie in diesem Zustand hält. Über Monate, Jahre, im Idealfall Jahrzehnte.

Alles andere ist: bloß Fitness.

Und dafür jetzt der ganze Text?

Ja. 

Denn ihr wisst: Simple.

Not easy.