Basics der Ernährung 1: Drei Wahrheiten über Ernährung, über die ich nicht diskutiere

Ernährungsdiskussionen im Internet und damit eo ipso auf den sozialen Medien, im Fernsehen und selbst in populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen sowie der Presse sind grundsätzlich eine zyklische Wiederholung derselben Argumente und vor allem: Meinungen.

Wenn alles bereits diskutiert wurde, ist es ermüdend, dieselben Diskussionen wieder und wieder zu führen, weil es weder effizient noch zielführend ist.

Das größte Problem jeglicher Ernährungsdiskussion ist der implizit mit ihr verbundene Bias – also der in den meisten Fällen unreflektierte, der eigentlichen Fachdiskussion vorangehende blinde Fleck; die Brille, durch die wir auf die Welt sehen.

Diese Brille kann ökologischer, gesellschaftlicher, psychologischer oder emotionaler Natur sein, sie bestimmt jedoch den Blick auf die Fakten.

Erkenntnistheoretisch wissen wir seit der Moderne, dass wir Dinge immer nur subjektiv betrachten können, das wir also immer biased sein werden, weshalb wir grundsätzlich nur zwei Möglichkeiten haben: erstens, uns unserer eigenen Brille gewahr zu werden, oder/und, zweitens, möglichst eng an der Sache zu bleiben und möglichst wenig Peripherie in die Darstellung bestimmter Sachverhalte einfließen zu lassen.

Die einfachste Möglichkeit hierzu ist die Identifikation von Schnittmengen und Gemeinsamkeiten aller Positionen – als eine Art kleinster gemeinsamer Nenner.

Herauskommen provisorische „Wahrheiten“, die im besten Wortsinne indiskutabel sind – über sie zu diskutieren ist weder sinnvoll noch zielführend, weshalb ich jegliche Debatte darüber ablehne.

Ernährungsdiskussionen: viele stecken sehr tief drin und verlieren den Blick auf das große Ganze (Foto: Henley Design, via Unsplash).


1 – Kalorien sind entscheidend, aber sie entscheiden nicht allein.

Die Kalorienbilanz ist einer der wichtigsten Faktoren, wenn es um Körperkomposition geht, aber es ist nicht der einzige Faktor und nicht derjenige, der allein entscheidet. Tatsächlich kann sich auch eine negative Kalorienbilanz negativ auf die Körperkomposition auswirken und die Qualität der Kalorien eine deutlich größere Rolle spielen, als wir das denken.

Sich schlecht zu ernähren ist eine schlechte Ernährung – selbst bei negativer Kalorienbilanz.

Wir müssen uns davon lösen, Kalorienzählen und die Kalorienbilanz ins Zentrum unseres Blicks auf Ernährung zu stellen.

„Kalorien“ und ihre Berechnung sind ein Modell, was die Realität im Zweifel nur unzureichend wiedergibt – eine Kalorie ist eine Kalorie ist eine Kalorie, ließe sich in Anlehnung an Gertrude Stein formulieren. Jede Kalorie verweist auf andere Kalorien aber nur sehr defizitär auf das Nahrungsmittel, das sie eigentlich beschreiben sollte.

Zudem kennen wir alle den Mitte 30 jährigen Menschen in unserem Leben, der (häufig tatsächlich biologisch männlich) das Frühstück ausfallen lässt, mittags ein belegtes Brötchen und abends ein schnelles Abendessen zu sich nimmt, vielleicht ein paar ungesunde Snacks zwischendurch, und so vielleicht auf 1600 Kalorien am Tag kommt – und dennoch einen ordentlichen Bauch vor sich herträgt. Die Kalorien allein erklären hier nichts.

Daraus folgt: Ernährung ist weit mehr als das künstliche Konstrukt Kalorien, weshalb eine Reduktion auf die Kalorien immer genau das ist: eine reduktionistische Sicht auf Ernährung, die viele entscheidende Faktoren außen vor lässt.


2 – Ernährung ist mehr als Körperfett und Muskelmasse, aber Ernährung ist nicht alles.

In unserer Alltagswahrnehmung geht es häufig um Ernährung als Schlüssel zu weniger Körperfett, zu einem „besseren“ Aussehen, mehr „Muskeln“ oder sonstigen optischen Optimierungen – was viele andere Funktionen und Wirkungen von Ernährung außer acht lässt.

Gleichzeitig ist eine übermäßige Pathologisierung von Ernährung – als Heilmittel oder Krankmacher – abzulehnen als Überinterpretation von Hinweisen.

Ernährung ist ein entscheidender Teil unseres Organismus und unverzichtbar für das Überleben, aber als multifaktorielles Phänomen sind monokausale Erklärungsansätze im Hinblick auf Ernährung schlichtweg falsch. So wie ein Mühlrad nicht den Dienst quittiert, wenn ein paar Äste im Wasser schwimmen, stellt unser Organismus nicht seine Arbeit ein, wenn nicht jede zugeführte Mahlzeit optimal ist.

In jeder Diskussion (die inzwischen vor allem besonders laut geführt werden muss, um überhaupt gehört zu werden) tendieren wir dazu, schwarz/weiß-Positionen einzunehmen – die allerdings eine reine Laborrealität sind. So wie die beiden Farben schwarz und weiß in absoluter Reinheit nur im theoretischen Farbmodell vorkommen, besteht unsere Realität aus ganz vielen Grautönen.

Das gilt auch und besonders für die Ernährung.

Wir müssen lernen, dass in Buzzwords und Clickbait-Schlagzeilen über Ernährung zu sprechen in aller Regel zu kurz gegriffen und einfach unseriös ist.

Während sich die Wissenschaft schwertut, überhaupt feststehende Aussagen über Ernährung und ihre Auswirkungen zu treffen (sie kann es schlichtweg nicht: Wohlbefinden lässt sich empirisch nur schwer messen und ProbandInnen zu finden, die sich von der Wiege bis zur Bahre beim Essen beobachten lassen, werden auch künftig schwer zu finden sein), stoßen HeilsversprecherInnen in diese Lücke und erklären nonchalant, dass die richtige Nahrungsmittelauswahl selbst das hartnäckigste chronische Leiden lindern würde.

Die Wahrheit liegt ungefähr in der Mitte. Ernährung kann keine Krankheiten heilen – aber sie kann uns sehr wohl dabei helfen, gesund zu bleiben.


3 – Sprechen über Ernährung ist mehr emotional als rational.

Stressessen und Frustessen. Essen, weil es etwas zu feiern gibt oder essen aus Langeweile – Nahrungsaufnahme und damit Ernährung ist häufig und in vielen gesellschaftlichen Praktiken entkoppelt von der ursprünglichen Funktion, den Organismus mit Nährstoffen zu versorgen.

In diesen Fällen funktionalistisch argumentieren zu wollen, ist sinnlos und irrational.

Die Emotionalisierung von Essen zu erkennen, wahrzunehmen und zu benennen und diesen emotionalen Aspekt zu entkoppeln und ihn damit von außen beschreib- und analysierbar zu machen, ist die einzige Möglichkeit, seiner Herr zu werden.

Das gilt für die Praxis des Essens genauso wie für das Sprechen über Essen, es gilt für Laien und ExpertInnen gleichermaßen. Ernährung wird vermarktet – mit Angst und Hoffnung, mit utopischen Risiken und seltsamen Chancen.

Ernährung ist für die meisten DiskussionsteilnehmerInnen entweder schuldbeladen (Ich darf das nicht essen!), befreiend (Endlich mal richtig reinhauen!) oder Ausdruck einer politisch-gesellschaftlichen Haltung; Ernährung wird stellvertretend für den Blick auf die Welt herangezogen und am Beispiel der Ernährung werden politische Positionen verhandelt.

Während Veganismus in der Außenwahrnehmung mit einer links-liberalen, weltoffenen und aufgeklärten Position verknüpft ist, gilt für den Carnivorismus (der ausschließliche Konsum von Fleisch) das Gegenteil: reaktionär, neurechts, auf Männlichkeitsidealen bestehend – Ernährung wird zur Arena, in der Grabenkämpfe der Weltanschauungen ausgetragen werden.

Daran wird sich nichts ändern lassen. Aber der Trick liegt darin, dass wir beim Blick auf die Diskussion die emotionale Seite berücksichtigen und nicht in die Falle tappen, Emotion und Fakten zu verwechseln.

Für die weitaus meisten Menschen ist jedes Sprechen über Essen immer auch emotional – diese Tatsache anzuerkennen, sie zu berücksichtigen und sich ihrer bewusst zu sein (und sie so weit wie möglich zu dekonstruieren), ist die eigentliche Aufgabe rationaler DiskussionsteilnehmerInnen.


Essen ist nicht zu lösen von seinen gesellschaftlichen Verknüpfungen - das analytische Sprechen darüber jedoch schon (Foto: Dan Gold, Unsplash).


Bringing it all together: Pragmatismus der Wahrheit

All diese Punkte sind weder per se gut oder schlecht – sie sind vielmehr erkenntnistheoretische Grundlage des Sprechens über Ernährung.

Und sie sind gleichzeitig Maßgabe für jeden Einzelnen:

Vielleicht ist es sinnvoll, nicht nur auf seine Kalorien zu achten, sondern auch auf die Art der Kalorien und die Lebensumstände um die Ernährung herum.

Vielleicht ist es sinnvoll, niemandem zu glauben, der auf einem Instagram-Kanal erklärt, sein neuer Tee könne ein chronisches Darmleiden heilen - und dennoch darauf zu verzichten, 5 verschiedene Süßstoffarten täglich in sich zu schütten, obwohl der Herr Professor von nebenan erklärt, bisher gebe es keine Studien die eindeutig zeigen würden, dass Süßstoff schlecht für unseren Darm wäre.

Und vielleicht ist es zudem sinnvoll sich zu fragen, ob die dritte Packung Schokolade auf dem Sofa nachts um 12 auch noch sein muss, nur weil der Tag so anstrengend war.

Hinter jeder Wahrheit steckt ein gewisser Pragmatismus. Viel Erfolg mit einer unaufgeregten Herangehensweise an Ernährung.

Pragmatisches Coaching?