Warum in der Aspartam Diskussion vieles durcheinander geht – und warum die Aufregung übertrieben ist

In den letzten Wochen ging der Süßstoff Aspartam – enthalten zum Beispiel in Cola-Light Getränken – durch die Medien: die WHO hat ihn als „possibly carcinogenic to humans“ eingestuft, genauer die International Agency for Research on Cancer (IARC).

Daraus wurde in der öffentlichen Diskussion schnell: Aspartam ist krebserregend.

Öffentliche Diskussionen funktionieren allerdings stark nach dem Prinzip, dass der, der am lautesten schreit, zwar am ehesten gehört wird, aber nur selten recht hat.

Hier ist es genauso. Ungeprüft haben Medien die Rede vom „karzinogenen“ Süßstoff übernommen.

Aspartam: Zuckerersatz in vielen Light- oder Zero-Getränken


Aspartam – ein Überblick über die Geschichte 

Aspartam ist 1981 als Süßungsmittel zugelassen worden, wobei es bereits in der Zulassungsphase seit den 1970er Jahren einige Fragezeichen bezüglich der Sicherheit des Süßstoffs gab, die vor allem mit Irregularitäten und personellen Doppelungen in Industrie und Aufsichtsbehörde zu tun hatten. Aspartam umgab daher von Beginn an die Aura eines potentiell schädlichen „Giftes“, was die Industrie uns aus reiner Profitgier unterzujubeln versuche.

Aus den Vermutungen der 1980er Jahre entwickelte sich in den 90ern eine Verschwörungstheorie, die im sogenannten Nancy Markle-Hoax 1999 kulminierte. Ein E-Mail Kettenbrief von einer als Nancy Markle gekennzeichneten Autorin aus der Frühzeit des Internets warnte eindringlich vor Aspartam und brachte den Süßstoff mit zahlreichen Erkrankungen wie Krebs, Multipler Sklerose oder Lupus in Verbindung. Nancy Markle, die angeblich gerade von der „World Environmental Conference“ zurückgekehrt war, brachte wirklich haarsträubende Informationen mit, was sie dazu brachte, sogar von „Aspartame Disease“ als eigener, multi-symptomatischer Erkrankung zu sprechen. Markle zitierte ExpertInnen und brachte unterschiedlichste Krankheitsbilder mit der Zufuhr der „tödlichen Chemikalie“ in Verbindung – alles mit dem Wissen des Unternehmens, was Aspartam zuerst entwickelt habe, Monsanto.

Alle von Markle in ihrem Kettenbrief vorgetragenen Punkte finden sich später in der Diskussion um die Gefahren von Aspartam wieder, prominent aufbereitet auch in der „Unser täglich Gift“ Arte-Dokumentation von Marie-Monique Robin (Frankreich) aus dem Jahr 2010, die 2011 erstmals in Deutschland lief.

Allein, Nancy Markle hatte nie existiert, die Quelle des Kettenbriefs konnte nie identifiziert werden und auch wenn verschiedene Fact-Checker in der Folge die dortigen Behauptungen vollständig widerlegten, war ein grundsätzliches Narrativ über Aspartam damit in der Welt und wurde an verschiedenen Stellen aufgegriffen und verbreitet.

Die Diskussion wurde erneut befeuert durch eine unter viel medialer Aufmerksamkeit veröffentlichte Studie aus Italien im Jahr 2006, die 2005 erstmals publik wurde und Teil der sogenannten Ramazzini-Studien ist (Soffritti 2006). Die Studie entstammte einem italienischen Labor (Europäischen Ramazzini-Stiftung, Bologna) und setzte Ratten verschiedenen Mengen von Aspartam aus – und die AutorInnen beobachteten, dass diese Ratten signifikant öfter an Krebs erkrankten als ihre Artgenossen.

Die erste Ramazzini-Studie erregte viel öffentliche Aufmerksamkeit, weil sie die lange vermutete Verbindung von Aspartam und Krebs eindeutig belegte – zumindest dachte man das. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) forderte die ForscherInnen aus Italien auf, die Daten vorzulegen, um eine Bewertung der Sicherheit von Aspartam vornehmen zu können, was diese allerdings erst nach mehrmaliger Aufforderung 2006 taten. In der durch die EFSA vorgenommenen und dann auch wiederholt überprüften Bewertung stellte sich heraus, dass die Studie aus Italien einige schwerwiegende Probleme aufwies. Zum einen ignorierte sie – vor allem in ihren Schlussfolgerungen – die physiologischen Unterschiede von Ratten und Menschen in ihrem Metabolismus, zum anderen setzte sie die Tiere erheblichen Mengen des Süßstoffs aus, weit über in üblichen Studien zur Karzinogenität von Stoffen hinausgehendem Maße. Die ForscherInnen ignorierten außerdem in den Tieren vorliegende entzündliche Erkrankungen, die mit weit höherer Wahrscheinlichkeit zu Krebs geführt haben. Zudem konnte nicht nachgewiesen werden, dass mit höherer Dosis auch das Krebsrisiko stieg, was für karzinogene Stoffe extrem unwahrscheinlich ist.

Die EFSA blieb daher bei der allgemeinen Sicherheitsempfehlung für die Einnahme von Aspartam, die bei 40mg/Kilogramm pro Tag liegt und bis heute gilt. Inzwischen konnten auch Meta-Studien eine Karzinogenität von Aspartam nicht bestätigen (Haighton et al. 2019).


Die aktuelle WHO-Veröffentlichung

Dennoch veröffentlichte die WHO nun eine Pressemitteilung, wonach Aspartam als „possibly carcinogenic“ einzustufen sei, also möglicherweise krebserregend. Diese Mitteilung basiert auf neueren Studienergebnissen, die in Kohortenstudien leichte Zusammenhänge zwischen bestimmten Krebsformen und der Zufuhr von Aspartam gefunden hatten.

Retrospektive Kohortenstudien sind in der Regel so aufgebaut, dass sie über einen bestimmten Zeitraum – meist Jahre bis Jahrzehnte – Daten über verschiedene ProbandInnen sammeln und dann die Daten in Zusammenhang setzen mit Krankheiten oder Tod. Berichtet also eine Teilnehmerin über Jahre einen erhöhten Konsum von Cola Light und erkrankt dann an Krebs, erkennt die Studie einen Zusammenhang zwischen der Erkrankung und dem zugeführten Nahrungsmittel.

Das Problem an retrospektiven Kohortenstudien ist, dass Krankheiten aus verschiedensten Gründen entstehen können und Datenerhebung immer limitiert ist – besonders über einen so langen Zeitraum. Vielleicht hat besagte Teilnehmerin viel Cola Light getrunken, vielleicht hat sie aber auch gleichzeitig etwas anderes getan, was ebenfalls krebsbegünstigend wirkt. Der Zusammenhang bedeutet nicht, dass es eine Kausalität gibt.

Dennoch lässt sich in den Daten der Zusammenhang erkennen – und die WHO-Bewertung erkennt das mit ihrer Veröffentlichung an und weist darauf hin.

Aber: sie betont gleichzeitig, dass die sichere Aufnahmemenge von 40mg/Kilogramm pro Tag nicht angepasst zu werden braucht – weil alle Daten zeigen, dass die potentiell karzinogene Wirkung nur bei weit höheren Dosen auftritt. Und: 40mg/Kilogramm sind 9-14 Dosen Softgetränk für eine 70kg Person.

Daraus folgt: die karzinogene Wirkung gibt es möglicherweise, aber es gibt sie, selbst wenn es sie gibt, erst ab wahnwitzigen Mengen von Light- oder Zero-Getränken bzw. anderen Light-Produkten, die kaum ein Mensch an einen normalen Tag konsumieren kann.

Das Statement der WHO ist also lediglich eine Anerkennung der aktuellen Forschungsposition und eine Einordnung der vorliegenden Ergebnisse – die eigentlich mehr die Sicherheit von Aspartam in handelsüblichen Mengen als seine Gefährlichkeit belegen.

Aspartam – zum Hintergrund der „tödlichen Chemikalie“

Aspartam ist biochemisch betrachtet eine Verbindung zweier Aminosäuren und einer Methylgruppe an einer der beiden Aminosäuren. Bei der Verstoffwechslung von Aspartam entsteht nun durch die freiwerdende Methylgruppe Methanol – die einfachste Alkoholform, die potentiell schädlich und in hohen Dosen sogar tödlich für den Menschen sein kann.

Aus dieser simplen biochemischen Tatsache ergibt sich, dass Aspartam potentiell schädlich für den Menschen sein muss, weil eines seiner Abbauprodukte schädlich ist. Dasselbe gilt allerdings für Tomatensaft, der ungefähr vier Mal mehr Methanol enthält, als eine vergleichbare Menge eines Light-Getränks, auch Fruchtsäfte sind häufig Methanol-haltig.

Methanol entsteht zudem im Darm bei der Verdauung zum Beispiel von Ballaststoffen sowie anderen Lebensmitteln. Das führt dazu, dass wir täglich allein durch unsere Ernährung Methanol aufnehmen und es selbst produzieren – was bedeutet, dass wir täglich zwischen 500mg und 1500mg Methanol ausgesetzt sind. Würden wir nun als 70kg Mensch täglich die erlaubten 40mg/Kilogramm Körpergewicht Aspartam konsumieren, kämen wir auf noch einmal rund 130mg Methanol, was sehr wenig ist im Vergleich zu den Mengen, denen wir ohnehin ausgesetzt sind.

Bei einem normalen Konsum von Getränken oder Lebensmitteln mit dem Süßungsmittel ist die Menge schließlich verschwindend gering.

Aufgrund seiner biochemischen Eigenschaften ist Aspartam daher eine Gefahr (ein hazard, wie es in der englischsprachigen Wissenschaft heißt), was aber nichts darüber aussagt, wie hoch unser jeweiliges Risiko ist, dass die Gefahr für uns tatsächlich bedrohlich wird. Wir wissen beispielsweise mit Sicherheit, dass ein Kobrabiss eine tödliche Gefahr ist, dennoch ist das Risiko für eine in einer deutschen Innenstadt lebende Person, dass sie durch einen Kobrabiss stirbt, sehr nah bei Null.

Mit diesem Wissen im Hinterkopf versteht man, warum die WHO / IARC Aspartam in die Kategorie 2B der karzinogenen Stoffe (inadäquate Hinweise auf Karzinogenität an Menschen, adäquate Hinweise darauf an Tieren) eingeordnet hat – zusammen mit beispielsweise Ginkgo Biloba, einem häufig als Nahrungergänzungsmittel verkauften Pflanzenextrakt, was kognitive Funktionen unterstützen soll, elektromagnetischer Strahlung oder Aloe Vera Extrakt. Es ist daher weniger karzinogen als beispielsweise Schichtarbeit mit regelmäßigen Nachtschichten oder Arsen, was in Obst, Gemüse und Reis vorkommt.

Aspartam - chemisch betrachtet. (Bild: ©https://de.wikipedia.org/wiki/Aspartam#/media/Datei:Aspartame.svg)


Aspartam – Ein Fazit

Der Umgang mit Aspartam ist seit den 1970er Jahren geprägt von Missverständnissen und Fehlinformationen, die auf die ein- oder andere Art bis heute nachwirken. Viele von uns haben ein „ungutes Gefühl“ wenn es um das Süßungsmittel geht – was dafür sorgt, dass die Mitteilung der WHO auf solch fruchtbaren Boden traf und ein gewaltiges Medienecho auslöste.

Der Inhalt der Mitteilung selbst beschränkt sich im Prinzip darauf anzuerkennen, dass Aspartam eine potentielle Gefahr darstellt, was Aufgabe der IARC ist. Gleichzeitig weist die Mitteilung darauf hin, dass die bloßen Fakten das tatsächliche Risiko für uns auf nahezu Null reduzieren – immer vorausgesetzt, wir konsumieren Aspartam in einem normalen Rahmen.

Jegliches Extremverhalten kann das Risiko erhöhen – wie in fast allen Fällen von Extremverhalten.

In der Diskussion um Aspartam kann am Ende daher nur eines stehen: der gesunde Menschenverstand. Wer in normalem Maße Light-Getränke oder andere gesüßte Lebensmittel konsumiert, erhöht damit nicht sein Krebsrisiko, zumindest nicht durch das enthaltene Aspartam und nicht nach derzeitigem Wissensstand.

Ist das ein Freifahrtschein für den ungehemmten Konsum von künstlichen Süßungsmitteln? Nein, es ist das Gegenteil davon. Es ist der Hinweis, dass ein Genuss mit Vernunft immer noch der beste Rat ist, den man Konsumenten geben kann.


Literatur

World Health Organization: Aspartame hazard and risk assessment results released, 14.7.2023, online unter: https://www.who.int/news/item/14-07-2023-aspartame-hazard-and-risk-assessment-results-released (25.07.2023).

Wikpedia: Aspartame Controversy (25.07.2023).

Aspartame Warning. Netlore Archive: Email alert warns of serious health hazards attributed to the artificial sweetener aspartame, online unter: https://web.archive.org/web/20120401025818/http://urbanlegends.about.com/library/blasp.htm (25.07.2023).

Aurora Saulo Hodgson: Falsifications and Facts about Aspartame, in: Food Safety and Technology Aug. 2001, online unter: https://www.ctahr.hawaii.edu/oc/freepubs/pdf/FST-3.pdf (25.07.2023).

Is Aspartame Responsible for 'An Epidemic of Multiple Sclerosis and Lupus'?, Snopes Magazine, 15. Sep. 2003, online unter: https://www.snopes.com/fact-check/aspartame-sweet-poison/ (25.07.2023).

Marie-Monique Robin: Unser täglich Gift. Frankreich 2010.

F.D. Flam: Cancer Risk or No, Diet Soda Is Bad For You, Washington Post v. 6. Juli 2023, online unter: https://www.washingtonpost.com/business/2023/07/06/aspartame-and-other-artificial-sweeteners-may-cause-cancer-should-you-worry/57520404-1c01-11ee-be41-a036f4b098ec_story.html (25.07.2023).

Melanie Warner: The Lowdown on Sweet, New York Times v. 12. Feb. 2006, online unter: https://www.nytimes.com/2006/02/12/business/yourmoney/the-lowdown-on-sweet.html (25.07.2023).

Soffritti M, Belpoggi F, Degli Esposti D, Lambertini L, Tibaldi E, Rigano A. First experimental demonstration of the multipotential carcinogenic effects of aspartame administered in the feed to Sprague-Dawley rats. Environ Health Perspect. 2006 Mar;114(3):379-85. doi: 10.1289/ehp.8711. PMID: 16507461

EFSA: EFSA beurteilt neue Studie zu Aspartam und bestätigt dessen Sicherheit, 4. Mai 2006 (online unter: https://www.efsa.europa.eu/de/news/efsa-assesses-new-aspartame-study-and-reconfirms-its-safety, 25.07.2023).

Louis Haighton et al., Systematic review and evaluation of aspartame carcinogenicity bioassays using quality criteria, Regulatory Toxicology and Pharmacology, Volume 103, April 2019, Pages 332-344.

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