Wir alle kennen diese seltsamen, aus kleinen Quadraten bestehenden Zauberwürfel, bei denen es darum geht, auf jeder Seite des Würfels eine gleichmäßige Fläche einer Farbe hinzukriegen. Das funktioniert, indem wir unterschiedliche Elemente des Würfels immer weiter gegeneinander verschieben, bis die einzelnen Quadrate auf einer Seite die gleiche Farbe zeigen.
Und: ist eine Heidenarbeit und ein riesiges Geduldsspiel.
Vermutlich ist es dir auch: ziemlich egal.
Denn vermutlich kreist dein Finger schon über dem ‚löschen‘-Button, um dich mit anderen Dingen in der weiten Welt des Internets anstatt dieser Mail zu beschäftigen. Durch dein IG-Feed zu scrollen, schnell Spiegel-Online zu checken, um dich informiert zu fühlen, TikTok zu aktualisieren oder bei YouPorn nach dem rechten zu sehen.Aber eigentlich willst du doch wissen, wieso dein freier Wille dich scheitern lässt – klassisches Dilemma. Daher: liest du jetzt weiter.
Und erfährst etwas darüber
- was Zauberwürfel mit dem freien Willen zu tun haben,
- wieso viele Optionen zu haben ganz nett, aber auch sehr anstrengend ist,
- und was das, zum Teufel, mit deinem Training zu tun hat.
Ready?
Gut, dann lass uns loslegen.
Zauberwürfel und Schokolade
Der Zauberwürfel ist nur ein Beispiel von vielen Experimenten die gemacht wurden, bei denen das Setup immer ähnlich war: Probanden wurden gebeten, ein Rätsel zu lösen, das unheimlich komplex bis unlösbar ist – ihre Geduld wurde also auf eine harte Probe gestellt.
Vorher waren sie kurz einer Situation ausgesetzt worden, bei der ihnen eine Süßigkeit angeboten worden war.
Das Resultat? Die weitaus größte Zahl derer, die die vorherige Süßigkeit abgelehnt hatte, gab signifikant schneller auf, als es an die Rätsel ging und bewies weit weniger Geduld und Durchhaltevermögen (siehe z.B. das Experiment von Baumeister et. al 1996: Ego Depletion). Gerade diejenigen, die also zunächst Willensstärke bewiesen hatten, wurden plötzlich schwach und brachen das Rätseln ab.
Diese scheinbare Inkonsistenz allerdings wird erklärbar dadurch, dass man davon ausgehen muss, dass wir eine begrenzte Anzahl an Entscheidungen pro Tag treffen können, bevor wir ‚erschöpft‘ sind. Unser freier Wille geht irgendwann zur Neige und kann nicht mehr – weshalb Untersuchungen gezeigt haben, dass unternehmerisch wichtige Entscheidungen, die von einem Geschäftsführer getroffen wurden, immer sinnvoller und zielführender waren, je früher am Tag sie getroffen wurden.
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Dein freier Wille ist nicht unendlich…
Im Alltag gibt es viele Entscheidungen, die uns abgenommen werden: wann wir auf der Arbeit sein müssen, welchen Bus wir nehmen, was wir zu Mittag essen.
Je mehr Entscheidungen wir aber treffen müssen, desto ausgelaugter sind wir – im übertragenden Sinne: kriegen wir ständig eine Süßigkeit angeboten, wird es uns zu irgendeinem Zeitpunkt besonders schwerfallen, sie auszuschlagen.
Und tatsächlich, betrachten wir unseren Alltag, fällt uns auf, dass unser freier Wille sehr oft ins Spiel kommt. Unser voller Kühlschrank und die Frage danach, was wir frühstücken. Ob wir, angesichts der neu eingeführten Gleitzeit, um 8 oder um 9 anfangen zu arbeiten. Ob wir das Fahrrad oder das Auto nehmen. Ob wir Jeans oder Chino, Rock oder Hose tragen.
Die Liste ließe sich beliebig fortführen – Fakt ist: unser freier Wille muss viel leisten. Wir nehmen ihm Arbeit ab, indem wir uns Routinen schaffen, die uns bestimmte Entscheidungen abnehmen. Das Frühstück für die gesamte Woche bereits sonntags festlegen und aufschreiben, zum Beispiel. Die Kleidung am Abend vorher bereitlegen.
Es sind diese kleinen Hacks, die es uns erleichtern, mit unserem freien Willen zu haushalten.
…aber er muss unendlich viel aushalten.
Allein, das ist nur eine Notmaßnahme angesichts dessen, was unser freier Wille aushalten muss. Denn er ist inzwischen einer Welt ausgesetzt, in der ihm ständig und jederzeit myriadenfache Möglichkeiten gegeben werden, sich zu entscheiden – und die gleichzeitig um jeden Preis verhindern möchte, dass er sich final entscheidet oder, noch besser, sich einfach für alles entscheidet.
Was heißt das?
Zalando, Hose, andere suchten auch…, das könnte dir auch gefallen, Shop the Look, Schuhe dazu, diese Saison angesagt, Herbstoutfit, Warenkorb, Größe ausverkauft, aber wir haben diesen Artikel für dich gefunden, zack, klick, 500€. Auf Rechnung, damit ich nicht sofort entscheiden muss, sondern erst wenn die Sachen da sind, 30 Tage Rückgabe? Erstmal anprobieren, dann treffe ich die Entscheidung oder…ich behalte einfach alles.
Schnell rüber zu Tinder, Timo, Torsten, Tilo, Tundra, Tulip, Tuncay, Turcan, alles mal liken, entscheiden können wir später, mit allen mal schreiben, entscheiden können wir später, alle mal daten, entscheiden können wir später und schließlich:
Können wir uns nicht mehr entscheiden.
Unser Instagram-Feed ist genau dasselbe, er möchte nicht, dass wir uns final für einen Post entscheiden, mit dem wir uns beschäftigen, er möchte Interaktion generieren, die möglichst kurz ist, um mehr Beiträge anzeigen zu können, die mehr Werbeeinnahmen generieren und mehr Nutzerdaten sammeln kann.
Tinder lebt nicht davon, dass wir schnellstmöglich einen Partner finden und Zalando nicht davon, uns die ultimative Hose zu präsentieren.
Unsere Welt funktioniert in vielen Fällen über die ständige Bereitstellung von Entscheidungsmöglichkeiten, während wir gleichzeitig nie in der Lage sind, eine endgültige Entscheidung zu treffen.
Unser freier Wille wird dauerhaft getriggert, aber niemals vollends ausgelebt.
Und wir?
Leben mit dem ständigen Gefühl verpasster Möglichkeiten und Chancen, den bitteren Geschmack falscher Entscheidungen auf der Zunge schmeckend, verzweifelt auf der Suche nach der einen richtigen Entscheidung im vor uns liegenden Meer der Möglichkeiten, ohne zu sehen, dass hinter uns die abgeschiedene Bucht ist, an der wir Ruhe finden würden.
Hack deinen freien Willen. Und lass dir sagen, was du trainieren sollst.
Die Überforderung des freien Willens – und das Training
Führen wir uns diese Situation des Dauerbeschusses unseres freien Willens einmal bildlich vor Augen, wird unmittelbar eingängig, dass es einer Herkulesaufgabe gleicht, nach einem 9stündigen Arbeitstag mit einer Durchschnittsnutzung der sozialen Medien von etwas über zwei Stunden überhaupt noch Entscheidungen zu treffen – von der für das Training ganz zu schweigen.
Symbolisch gesprochen: wir kommen aus dem Paradies von Süßigkeiten und Schokolade und sollen jetzt bewusst die Entscheidung treffen, eine Salatgurke zu essen. Wenn wir gleichzeitig noch mehr Süßigkeiten haben könnten, in neuer Verpackung, schließlich gibt es des abends Netflix auf dem 70 Zoll Flatscreen auf der Couch.
Auch wenn uns der Bauch wehtut, wir eigentlich fed up sind und alles dafür sprechen würde, einfach die Entscheidung zu treffen – sie ist die schwerste des ganzen Tages.
Vielleicht entscheiden wir uns sogar für das Training, aber tun es nur halbherzig, indem wir uns für den Stepper und Netflix entscheiden (quasi die kalorienreduzierte Schokolade).
Oder wir machen schnell noch ein Workout von einer Influencerin, weil das unglaublich kurz und effektiv ist (im Endeffekt die kleine Praline, die die doppelte Menge an Kalorien enthält).
Man könnte einwenden, dass die Fitnessstudios aber voll sind mit jungen Menschen, auf die das nicht zutrifft. Die mit ihrem freien Willen an die Hanteln rennen, Tag um Tag, Woche um Woche.
Mag sein, dass das als Gegenargument zählt. Aber: wieviel freier Wille ist dabei, wenn ästhetisch orientiertes Fitnesstraining Statussymbol und Like-Garant ist, wenn nicht die Sache im Zentrum steht, sondern der Benefit, den man sozial daraus zieht, wenn Training hier vorrangig soziales Kapital wird?Kurz:
Wir tun im Training das, wozu wir uns gerade noch aufraffen können, wozu wir noch in der Lage sind und was unseren freien Willen am wenigsten herausfordert. Kompromisslösungen sind der Konsens.
Also: warum scheitern wir? Und wenn wir scheitern – wozu brauchen wir dann den freien Willen?
Wir können unserer Welt nicht entkommen. Wir können uns selbst die Flut der Entscheidungen und Möglichkeiten nicht abnehmen. Wir können unseren freien Willen nicht vor seiner Funktion retten.
Wenn es um Training geht, werden wir daher immer und schon aus der Logik der Sache heraus scheitern – wir können der dilemmatischen Situation nicht entgehen, solange wir den freien Willen in der Gleichung behalten.
Die einzige Frage die sich stellt ist die, ob wir den freien Willen überhaupt benötigen, wenn es um Training geht.
Ob wir den vielbesungenen Schweinehund besiegen müssen, diese Disziplin aufbringen, von der so viele sprechen, ob wir die ganzen Motivationsreden auf dem Handy hören müssen, während wir gedankenverloren auf dem Laptop im Netz herumsurfen, ob wir uns einfach mal durchbeißen müssen und den Arsch hochkriegen.
All das wird obsolet wenn wir uns selbst die Entscheidung abnehmen – und den freien Willen kaltstellen, was das Training angeht. Wenn wir uns keine Entscheidungsmöglichkeit, keine Option mehr offenlassen, wenn wir uns committen, indem wir Training von einer Option zu einem Task machen: von einer Eventualität zu einer Finalität.
Nicht mehr planlos im Studio rumlaufen und verzweifelt überlegen, was du tun könntest?
Bringing it all together: Training ist nicht optional, sondern obgliatorisch
Es ist wunderbar, in einer Welt voller Möglichkeiten und Optionen zu leben, leider sind wir nicht dafür gemacht.
Der Mensch braucht, um funktionieren zu können Grenzen, Regeln und Verpflichtungen (Lesetip: Liessmann: Lob der Grenze), jede Gesellschaft ohne Regeln ist dem Untergang geweiht.Er braucht Ansagen und klare Regeln, wie sein Alltag zu bestreiten ist. Er braucht: einen Plan.
Im Training ist das ein Trainingsplan.
Training ist nicht die Aneinanderreihung von Youtube-Workouts und ein anderes für jeden Tag der Woche.
Training ist nicht montags der Zumba-Kurs, mittwochs Pilates und freitags Bauch-Beine-Po.
Training ist nicht: mal schauen, worauf man Lust hat.
Training ist, einer festen Struktur und einem klaren Plan über einen gewissen Zeitraum zu folgen. Der Plan beinhaltet im Idealfall nicht nur die Übungen, Wiederholungen, Sätze, Gewichte, er schreibt Trainings- und Pausentage vor, er definiert Dauer einzelner Trainingseinheiten und -abschnitte, er kombiniert verschiedene Formen des Trainings miteinander und baut daraus eine allumfassende Struktur.
Ein Trainingsplan ist dazu da, den freien Willen frei sein zu lassen, sich zu erholen von all den Entscheidungen, die er täglich zu treffen hat.
Deshalb hat jeder Coach einen Coach. Deshalb hat jeder Spitzenathlet einen Coach.
Um nicht mit der Peinlichkeit konfrontiert zu sein, sich selbst entscheiden zu müssen, was heute gemacht wird.
Coaches unterstützen dabei, Entscheidungen zu treffen, indem sie gewisse Entscheidungen abnehmen und Vorgaben machen, andere Entscheidungen gemeinsam mit dem Gecoachten treffen und in wieder anderen Entscheidungen ganz den freien Willen des Gecoachten entscheiden zu lassen.
Es gibt Tage, an denen man nach mehreren Stunden voller Entscheidungsprozesse und dem Abwiegen von Optionen eine Stunde erleben möchte, in der man erscheint, sich bewegt und all das Denken und Entscheiden jemand anderem überlässt.
Das nimmt den freien Willen und damit die Myriaden an Optionen aus der Gleichung – und macht Fortschritt und Progression viel einfacher. Weil man nicht an jeder Abzweigung stehenbleibt und überlegt, ob man nicht doch abbiegen möchte. Man kommt voran.
Dafür gibt es Pläne. Und es gibt Coaches, die diese Pläne schreiben.
Why we Fail?
Weil wir verlernt haben, uns in einer Welt voller Optionen darauf zu konzentrieren, was wir eigentlich wollen und wie wir es wollen. Zumindest im Training können wir diese Aufgabe abgeben und uns so von etwas entlasten, was Ent- und nicht Be-lastung sein sollte.
Und uns auf die Dinge konzentrieren, für die freier Wille wichtig ist.
Viel wichtiger.
Das Handy abends zur Seite zu legen.
Das nächste Match mal mehr als 3 Gewinnsätze zu spielen.
Nicht fünf Hosen kaufen, sondern die drei anziehen, die noch im Schrank liegen.
Den Flatscreen mal flat sein lassen und dafür das Gespräch mit dem Partner deep werden lassen.
All diese Dinge, für die wir uns inzwischen jeden Tag bewusst entscheiden müssen, weil es nicht mehr selbstverständlich ist.
Und dafür der ganze Text?
Ja.
Denn ihr wisst:
Simple. Not easy.
Bis zum nächsten #tarektalk.